Renate Welsh: Dieda oder Das fremde Kind

Nicht nachgeben

Alles, nur keine Schwäche zeigen: Das ist die Überlebensstrategie eines sechsjährigen Mädchens, das aufs Land geschickt wird, um den Bomben des 2.Weltkriegs zu entkommen. Der Vater ist in Wien zurückgeblieben, die Mutter an einem Gehirntumor gestorben. Es gibt kein Gegengewicht zur harten Hilflosigkeit der Stiefmutter, zu deren Vater, einem Nazi, der mit autoritärer Grausamkeit die Familie dominiert. Das Kind ist ihnen ausgeliefert und reagiert darauf mit dem verzweifelten Bemühen, sich und ihre Gefühle zu verbergen – bis zur völligen Distanzierung vom eigenen Ich: „Dieda“ besteht selbst darauf, so gerufen zu werden. Der qualvolle Trotz, sich gegen die Gewalt und die Ungerechtigkeit des Alten, gegen die Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit ihrer Umwelt zu wehren, mündet in einen Kreislauf aus körperlichen und seelischen Schmerzen, der sie immer härter und unbeugsamer macht. Das in radikaler Innenperspektive erzählte Buch zeigt die Heimatlosigkeit eines Kindes, das in einer für sie unverständlichen Welt nach Erklärungen sucht – für die politischen Geschehnisse wie für die eigenen Gefühle. Obwohl der zeitgeschichtliche Hintergrund – Nationalsozialismus, Einmarsch der Engländer, Rückkehr ins zerbombte Wien – nur fragmentarisch erzählt wird, bildet er eine bruchlose Einheit mit Diedas individuellem Schicksal. Hier werden die Stärken einer Autorin deutlich, die durch die Schilderung scheinbarer Nebensächlichkeiten und sensible Sprachbilder eine besonders dichte Erzählatmosphäre schafft. Dieser autobiographische Text lässt wohl kaum einen Leser, eine Leserin unberührt.

Karin Haller


Cover

Renate Welsh: Dieda oder Das fremde Kind

Innsbruck: Obelisk 2002, 128 S., lieferbar