Christine Nöstlinger: Maikäfer flieg

So lange her und immer noch eine Sensation?

1965 wurde das Institut für Jugendliteratur gegründet, das war gerade mal 20 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs. Und nur 8 Jahre später hat Christine Nöstlinger dies Buch über das Kriegsende in Wien veröffentlicht. (Das war 3 Jahre nach ihrem Debüt „Die feuerrote Friederike“. In diesen 3 Jahren sind im übrigen 11 Bücher der Wiener Autorin erschienen, darunter „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“, das mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. „Maikäfer flieg“ wurde in die Auswahlliste dieses wichtigsten deutschsprachigen Preises aufgenommen, die niederländische Ausgabe erhielt 1982 einen „Silbernen Griffel“. In Österreich erhielt das Buch keinen Preis, da es in einem deutschen Verlag erschienen war).

„Maikäfer flieg“ also: Kein anderes Buch hat mich so nah an die Ereignisse am Ende des 2. Weltkriegs gebracht. Und zugleich ist das Geschehen so weit weg, gefühlt, dass mir scheint, Huckleberry Finn wird etwa zur selben Zeit mit Jim den Mississippi runtergeschippert sein. Beim Erscheinen des Buches war ich 10 Jahre alt und vom Krieg hatte mir niemand erzählt bis dahin. Ich hätte es geliebt. Gelesen habe ich es allerdings erst viel später und dann immer wieder. Bei jeder Lektüre hat sich etwas anderes in den Vordergrund gedrängt, je nach Lebenslage. Als ich in Hernals gewohnt habe, war es zum Beispiel die Topografie: Ich bin den Kalvarienberg hinaufspaziert in Gedanken an die Hannitante, auf der Alszeile hinaus nach Neuwaldegg hab ich nach Bombentrichtern geschaut und draußen nach der Villa der von Brauns. Beim jüngsten Lesen war es (wieder, muss ich sagen) die Beziehung der Ich-Erzählerin zu ihrer Familie, die mich da und dort nach Luft schnappen ließ: Wie egal ihr die Schwester ist, wie bösartig manchmal der Blick auf die Mutter gerät – und wie sehr sie ihren Vater liebt … Über vier Jahrzehnte ist diese Buch jetzt auf der Welt. Würde es jetzt erscheinen, so, wie es vor 42 Jahren geschrieben wurde, wäre es wie neu. Und eine Sensation.

Franz Lettner


Cover

Christine Nöstlinger: Maikäfer flieg

Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich
Weinheim: Beltz & Gelberg 1973, lieferbar in verschiedenen Ausgaben