Jenny Valentine: Zwei Seiten eines Augenblicks

Aus dem Englischen von Klaus Fritz. München: dtv 2025, 192 S., € 16,50

An einem flirrend heißen Sommertag plaudern zwei junge Frauen miteinander. Die eine trinkt warmen Cider aus der Dose, die zweite raucht eine Selbstgedrehte nach der anderen. Die hat sie alle bei der Party aufgelesen, in jener perfekten Nacht, in der alle dabei und überglücklich waren. Davon später mehr.

Zunächst soll Elk, die Erzählerin, zu Wort kommen, die ihr Gegenüber Mab betrachtet: „Sie ist netzgardinendünn. Nur ein Schleier ihrer selbst. Sommersprossen, wie wenn es auf trockenem Boden anfängt zu regnen, eine kleine Narbe über ihrer Augenbraue, das strahlend weiße Schimmern ihrer Zähne. Wenn ich blinzle, tropft und verschwimmt ihre Gestalt wie zerfließende Farbe. An ihrer rechten Seite hat sie Schleifspuren, der reine Asphalt. Ein Riss in ihrem Kleid, knochentief. Der Bluterguss an ihrer Schläfe ist schwarz und schattig, wo ein Stück ihres Schädels eingebrochen ist. Sie dreht sich um und grinst mich an, den Mund voll gelblichem Rauch. Meine schöne Freundin.“

Die Zuversicht dass diese Geschichte gut ausgeht, kann man schon auf Seite zwei fahren lassen. Elk – von Elena – und Mab sitzen auf einem Friedhof nah an einem frischen Grab – und eine der beiden ist tot. Erst nach und nach enthüllt der Roman jenes entscheidende Ereignis, das die Zeit in ein Davor und ein Danach teilt — wie der englische Originaltitel „Us In The Before And After“ es nennt.
Bis dahin ist noch Zeit und man begleitet die beiden, die Lebende und die Tote, durch diese Tage im Dazwischen, sitzt mit ihnen bei Stevie, der Therapeutin, die Elk als Trauerbegleiterin über den Tod ihrer geliebten Großmutter hinweggeholfen hat. Hört den Gesprächen der Freundinnen zu, und erfährt im Rückblick, wie sie es wurden. Es ist eine von mehreren berührend schönen Szenen in diesem Roman. Die damals elfjährige Elk war in einem Heckenlabyrinth verloren gegangen wie in einem Albtraum. Um schließlich von Elk gefunden, gerettet zu werden. Bald darauf waren die beiden ein Herz und eine Seele, zwei verschränkte Teilchen, die genau korrelieren, wie die Physik „unzertrennlich“ definiert. Elk nämlich ist immer schon eher Nerd gewesen als Partymensch, zurückhaltend, fasziniert von Quantenphysik, inspiriert auch von ihrer Großmutter, einer Physikerin. Mabs Welt dagegen hatte, zumindest in den Augen Elks, immer ein bisschen mehr Farbe als ihre eigene, war immer besser beleuchtet. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Elks Mutter treffend angemerkt, Mab sei ein „sehr freilaufendes Mädchen“.

 

Jenny Valentine: Zwei Seiten eines Augenblicks

 

Rückblenden erzählen von den Familien der beiden, von France, Elks drei Jahre älteren Bruder – einem lässigen Prinzen, Schwarm aller Mädchen an der Schule, dessen Charisma auch Elk und Mab erhellt, es Ihnen möglich macht, früh zu sein, was sie sind. Dass zwischen France und Elk etwas passiert, was nicht aufzuhalten ist, merkt sie selbst als Letzte. Und es ist zugleich die einzige Trübung zwischen den beiden Freundinnen. Mab macht Elk unmissverständlich klar, dass das nicht geht, ihre beste Freundin und ihr Bruder, nie und nimmer geht das, wäre Verrat an ihrer Freundschaft; dann bliebe sie nämlich unweigerlich allein zurück.
Zwischendrin vergisst man fast, dass man einer Begegnung zwischen Leben und Tod folgt, verliert sich in nostalgischen Rückblenden und genießt die klare, zärtliche und brutal präzise Prosa Jenny Valentines – nur um immer wieder auf den zerstörten Körper Mabs hingewiesen und daran erinnert zu werden, dass man sich unaufhaltsam dem fatalen Augenblick nähert, von dem man von Anfang weiß, dass er kommt.

Und schließlich kommt er, am Höhepunkt der Nacht der Party. Er kommt nach einem Kuss und einem kurzen heftigen Streit. Die 30 Sekunden unmittelbar nach der Versöhnung zerstören das größte Glück. Zitat: „Da sind Geräusche – aufjaulender Motor, Knacken im Holz, Stoß gegen Fleisch“ und „die Quadratwurzel der Stille“ danach.

Ab diesem Moment, rund 60 Seiten vor Schluss, bleibt der Roman im Danach – „Zwei Seiten eines Augenblicks“ ist nun eine Geistergeschichte. Im siebten Jugendroman seit 2007 – alle brillant übersetzt von Klaus Fritz, erzählt die britische Autorin Jenny Valentine von Schmerz, Überwältigung und Trauer, nicht von Schuld, kaum von Trost. Auch ein völlig überraschender Twist ändert daran nichts. Führt eher dazu, gleich wieder zurückzublättern zum Beginn. Zu jenem heißen Sommertag, an dem zwei junge Frauen auf einem Friedhof sitzen. Eine lebt. Eine ist bereits tot.

Franz Lettner