Madeline Claire Franklin: The Wilderness of Girls

Aus dem Englischen von Maren Illinger. Frankfurt: Fischer Sauerländer 2024, 464 S., ab 14

"Der Wald empfängt Rhi wie kein anderer Ort je zuvor" beginnt jenes Kapitel, in dem – für die jugendliche Protagonistin, Aushilfskraft in einem Naturschutzgebiet, so überraschend wie für den Leser – vier Mädchen eskortiert von zwei riesigen Wölfen aus dem Nebel auftauchen. Sie sind "halbnackt, in schmutzige Felle gehüllt, sie knurren, ihre Haut ist von Erde bedeckt. Ihre Haare sind schlammverkrustet, in groben Knoten oder Zöpfen aus ihren Gesichtern gebunden, und ihre Köpfe zieren Zweige und Federn wie zur Tarnung, als Krone oder Heiligenschein." Was für eine Szene, unwillkürlich denkt man an Mogli und andere wilde literarische Kinder.

Nur wenige Wochen vor dieser Begegnung hat Rhi im Übrigen noch Eden geheißen und ist mit Vater und Stiefmutter in einer frostigen Villa beim formvollendeten Abendessen gesessen. Das jäh von einem Trupp Polizisten und mit der Verhaftung des Vaters beendet wurde. So ist Eden bei ihrem Onkel gelandet und Rhi geworden. In Happy Valley, der Kleinstadt am Rand des Naturschutzgebiets, will das Mädchen ihr bisheriges Leben in einer ordentlichen dysfunktionalen Familie vergessen und mit dem selbst gewählten Namen neu anfangen.
Der Spannungsraum zwischen Wildnis und Zivilisation wird im ersten Drittel von Madeline Claire Franklins Roman „The Wilderness of Girls“ als zentraler Handlungs- und Diskursraum aufgebaut, in dem dann der Plot weiterentwickelt sowie gesellschaftspolitische, moralische und philosophische Fragestellungen angerissen werden: Normen und Regeln des menschlichen Zusammenlebens in einer patriarchal geprägten Gesellschaft und Verstöße gegen sie; das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, Männern und Frauen, Magie, Märchen und Glauben.

Dass "die Wilden Mädchen von Happy Valley“, die Rhi aus dem Wald führt, auf einen Schlag berühmt werden, wundert nicht. War ihr bisheriges Leben doch so spektakulär wie unglaublich – also exakt das, was Zuschauer, Zuhörer und Klicks generiert: Vier junge Frauen, im Wald aufgewachsen und ohne Erinnerung an ein anderes Leben. Aufgezogen und versorgt von einem Mann namens Mutter. Der für sie Vater, Lehrer und bester Freund war, ihnen also nicht nur alles Nötige für ein Überleben in der Wildnis beibrachte, sondern sie mit auch mit Liebe und einem Lebenssinn versorgte: Kriegerinnen seien sie, Prinzessinnen, vertrieben aus einem sagenhaften, vom Untergang bedrohten Land, das zu erlösen ihre Bestimmung sei.

Unmittelbar nach dem Auftauchen der Mädchen in der Zivilisation beginnen nicht nur fieberhafte Versuche der Aufkärung ihrer Herkunft und Geschichte, sondern auch ihr Zurichtungsprozess.

 

franklin wilderness of girls

Madeline Claire Franklin erzählt ihren Debütroman ohne Pathos oder Gefühlsduselei und mit einer Erzählstimme, die allen Mädchenfiguren immer wieder nahe kommt, auch auf ihrer Seite steht, und doch eine gewisse Distanz hält. Verteilt über den ganzen Roman baut die amerikanische Autorin zudem sogenannte „Auszüge aus "Das wilde Schloss: Erinnerungen der Wilden Mädchen von Happy Valley““ als Binnenerzählung ein, in der das Leben in der Wildnis aus der Sicht der Mädchen chronologisch als eine Art Mythos präsentiert und in die Gegenwart fortgeschrieben wird. Daneben gibt es weitere Einschübe: E-Mail Entwürfe von Rhi an ihren Stiefbruder, Zeitungsberichte, Einträge aus Reddit, das Protokoll eines Podcasts über die Wilden Mädchen, Cloud Notizen einer Psychologin, die darin ein differenzierteres Gegenbild zur medialen Öffentlichkeit zeichnet.

„The Wilderness of Girls" ist solide geschrieben und von Maren Illinger gut übersetzt. Was das Buch aber vor allem lesenswert macht, ist, wie erfrischend wild und direkt aus unterschiedlichsten Kontexten bekannte Themen und Motive zusammengebracht werden: Erziehung als Zivilisierungsprozess, Coming of Age, toxische Männlichkeit als konstituierendes Element des Patriarchats und Schwesternschaft als Möglichkeit seiner Überwindung, Sehnsucht nach Sicherheit und Zugehörigkeit und Familie als Ort, der beides oft nicht bietet. Die Autorin hat vor Zuspitzungen keine Angst, lässt Ambivalenz auf allen Ebenen zu und hier und da unerwartet sogar Humor aufblitzen. Und sie hält bis zum Schluss – immer wieder auch mit überraschenden Wendungen – die Spannung.

Dass man die eigene Geschichte nicht hinter sich lassen kann, erfahren sowohl Rhi als auch die vier Mädchen, die sie aus dem Wald heraus- und in die Welt, wie wir sie kennen, hineingeholt hat. Sicher ist nur eines: „Eine Wahrheit schließt nicht immer eine andere aus. Wir werden vielleicht nie alle Antworten auf unsere Fragen bekommen, aber in dieser Welt ist Platz für Ungewissheit – ja, sie gründet sogar darauf. Es gibt Raum für das Unbekannte, das Unbestimmte. Es gibt Raum für Magie und Wildheit. Es gibt Raum für so viel mehr, als wir uns je vorzustellen gewagt haben. Wie schön diese Welt sein muss, wenn sie so viele Möglichkeiten enthält."

Franz Lettner