Tobias Elsäßer: Mute

Wer bist du ohne Erinnerung?

Wer bist du ohne Erinnerung? München: Hanser 2024. 304 S., € 17,50. ISBN-13 978-3-446-27920-9

Eine Mute-Taste bietet die Möglichkeit, ein Audiosignal stummzuschalten. Sie ist üblicherweise nur für einen begrenzten Zeitraum aktiv. Im Fall der 16-jährigen Espe in Tobias Elsässers neuem Jugendroman sind es ihre Erinnerungen, die stummgeschaltet wurden. Dauerhaft.

Espe kennt nur eine Heimat – ihre Familie. Die zieht nomadenhaft umher, wodurch die Geschwister besonders intensiv miteinander verbunden sind. Vier Kinder sind es, drei davon adoptiert, mit lateinamerikanischem Hintergrund. Espe, Yuma und Farid kennen weder die Namen noch die Gesichter ihrer biologischen Eltern, versuchen die Lücken in ihrer Biografie mit Wahrscheinlichkeiten zu stopfen. In unterschiedlichem Maß leiden sie darunter, „sich nur auf Vermutungen stützen zu können, keine Gewissheit, aber das Gefühl zu haben, dass Teile nicht zusammen passen.“ Dabei versuchen die Eltern, ein Biotech-Programmierer und eine Ärztin, die Kinder mit Liebe und Verständnis ins Erwachsenwerden zu begleiten, doch über die Vergangenheit erzählen sie nichts.

Als die Familie in ein kleines Dorf im Schwarzwald übersiedelt, löst ein Autounfall unerklärliche Veränderungen aus. Yuma zieht sich plötzlich in aggressive Verweigerung zurück, verzweifelt versucht Espe, ihrer Schwester zu helfen. Dabei wird sie selbst immer öfter von Visionen heimgesucht, die sie nicht zuordnen kann, die ihr Angst machen. Sind es Erinnerungen an die Zeit vor ihrer Adoption?

 

Tobias Elsaesser: Mute

Und dann, wie aus dem Nichts, wird die vermeintliche Vorzeigefamilie auseinandergerissen. Die Polizei stürmt das Haus, die Eltern werden verhaftet, Espe und ihre Geschwister an einen geheimen Ort gebracht, fernab von den Medien, die den Fall hochkochen; später sucht sie in einer psychiatrischen Klinik Hilfe. Doch keiner, weder Polizisten noch Psychologen oder Gutachter, erklärt, was den Eltern vorgeworfen wird. Was haben sie den Kindern angetan? Viele Fragen blieben auch im Gerichtsprozess unbeantwortet. Bis das Mädchen schließlich doch hinter das Geheimnis kommt, das ihr Leben und das ihrer Geschwister bestimmt.

Tobias Elsässer kombiniert unterschiedliche Textsorten: In erzählenden Passagen hält Espe tagebuchartig die Gegenwart ihres Klinikaufenthaltes fest und verbindet diese mit der Retrospektive der Ereignisse seit dem Unfall; darin hineingeschnitten sind Interviews einer Investigativreporterin mit Menschen, die die Familie Simwe kennen oder kannten.

So entsteht im Wechselspiel von Vergangenheit und Gegenwart ein intensives Geflecht verschiedener Perspektiven. Immer enger ziehen sich die Kreise um die Frage, die – als Untertitel des Buches hervorgehoben – im Mittelpunkt des Textes steht: Wer bist du ohne Erinnerung? Dabei geht der Roman weit über die Definitionen von Identität und Persönlichkeit hinaus, beschäftigt sich auch mit anderen komplexen Fragen. Ist es ethisch vertretbar, traumatische Erinnerungen zu löschen? Grundsätzlich? Auch ohne die Einwilligung der Betroffenen, weil sie etwa viel zu jung sind, um eine derartige Entscheidung treffen zu können?

Im Nachwort führt der Stuttgarter Autor aus, dass bei seinem Buch zwar Epigenetik und Traumata eine große Rolle spielen, er jedoch Geschichtenerzähler und kein Wissenschaftler sei. Dementsprechend geht es in „Mute“ nicht nur um die Möglichkeiten von Technik, Medizin und Künstlicher Intelligenz, als vielmehr um ein junges Mädchen, das ihr Anderssein überwinden und sich in ihrem Leben zuhause fühlen möchte. Eine berührende und spannende Lektüre nicht nur für Freundinnen und Freunde des Thriller-Genres.

Karin Haller