Tamara Bach: Marienbilder
Scherenschnittartig sind die Umrisse dreier Frauenköpfe am Cover zu sehen: Tamara Bach erzählt in ihrem neuen Roman „Marienbilder“ von Marianne, Magda und Mareike, Großmutter, Mutter und Tochter.
Scherenschnittartig sind die Umrisse dreier Frauenköpfe am Cover zu sehen: Tamara Bach erzählt in ihrem neuen Roman „Marienbilder“ von Marianne, Magda und Mareike, Großmutter, Mutter und Tochter. Sie tut das formal herausfordernd, Perspektiven und Erzählzeiten wechseln übergangslos, ineinander fließend, so wie die Lebensgeschichten dieser drei Frauen ein ineinander verwobenes Geflecht sind: Geschichten, die in unterschiedlichen Varianten erzählt werden – das Leben ist in verschiedenen Möglichkeiten denkbar. So heißt es von der Großmutter, die einen Bastard zur Welt brachte, als ihr Mann im Krieg war:
„Marianne hat es aus Liebe getan. Sie hat es einmal getan, weil der Soldat ihr dafür Kaffee und Zigaretten versprochen hat, und er hat sein Versprechen gehalten. Marianne hat es nicht aus Liebe getan. Marianne war im Dunkeln noch viel zu spät draußen, war unterwegs, war nicht vorsichtig, ist in einen Hof gezogen worden (…) Marianne war verliebt und es war Frühling.“
Auch stilistisch präsentiert sich dieser Text sehr speziell: kurze, prägnante Sätze, oft nur Satzteile, dann wieder lange, fast lawinenartige Satzgefüge. Wortwiederholungen, Dopplungen, aber auch Auslassungen, Leerstellen – und alles gehorcht einem sehr genau getakteten Sprachrhythmus. Da ist kein Wort, kein Beistrich, keine Absatzsetzung dem Zufall überlassen. Tamara Bach erweist sich wie in ihren früheren Romanen, und noch mehr als in diesen, als Meisterin der Komposition.
Im Focus steht die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Mareike, deren Mutter von einem Tag auf den anderen ihre Koffer packt und verschwindet, ohne Nachricht, ohne Erklärung. Mareike bleibt ohne Anhaltspunkt zurück, ihre älteren Geschwister wohnen nicht mehr bei ihr und ihrem Vater, der sich in amorphe Sprachlosigkeit zurückzieht. Das Mädchen irrt durch ihr aus dem Takt geratenes Leben, geht auf eine Party, besucht – in einer der Erzählvarianten – ihre Schwester und eine alte Freundin ihrer Mutter. Doch nur der Großmutter im Altenheim kann Mareike von ihrer Angst, schwanger zu sein, erzählen. Diese hält ihre Enkelin für ihre Schwiegertochter – bekam doch auch Magda ein uneheliches Kind.
Jede der drei Frauen bricht mit den Erwartungen ihres Umfeldes, kämpft mit einem Weiblichkeitskonzept, das ihren eigenen Bedürfnissen keine Chance lässt. Nicht umsonst wählte die Autorin die Marienbildchen, die Mareikes Großmutter Marianne so sehr liebt, als Titel. Ihr, der Heiligen, kann keine reale Frau entsprechen.
„Marienbilder“ bietet keine stringente Handlung, sondern nur eine Ausgangssituation – das Verschwinden der Mutter – von der aus sternförmig verschiedene Handlungslinien als Varianten abzweigen: „Dann fang noch mal an. Geh zurück auf Los. (…) Als ob alles davon abhängt, ob du dich setzt oder nicht. Als ob es sich daran entscheidet.“ Mareike hat eine Fehlgeburt, Mareike bekommt das Kind: Ab der Hälfte des Romans teilt sich die Erzählung in fünf gleichberechtigte Möglichkeiten eines weiteren Handlungsverlaufes: Welcher eintritt, hängt auch von Zufällen ab: Kommt der Zug gleich oder hat er Verspätung? Fällt er ganz aus? Und wenn das so ist, bleibt man dann zu Hause, oder nimmt man einen anderen, fährt nach Süden, ans Meer? Aber es ist nicht nur Schicksal, das uns durch unser Leben treibt: Mareike begreift, dass es ihre Entscheidungen sind, die ihren Weg bestimmen, und dass sie sie alleine treffen muss:
„Ich stehe auf dem Bahnhof und warte auf meinen Zug, ich warte, da ist eine Bank, darauf meine Mutter, die mich in ihren Armen hält, da ist keine Ansage, irgendein Zug wird kommen, irgendeine Richtung wird es geben, mach die Augen auf und entscheide dich. Mach die Augen auf, die festen Arme meiner Mutter, und plötzlich lässt sie los.“
Mit empathischer Intensität erzählt Tamara Bach von Sehnsucht und Suche nach Liebe, von Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Es ist ein illusionsloser Blick, an dessen Ende sogar die Negation der eigenen Existenz steht: Eine, die letzte der erzählten Möglichkeiten ist, dass Magda ihre Schwangerschaft abbricht: „ … und meine Mutter ist müde und entscheidet sich. Und behält mich nicht.“
Leben bedeutet – die Zugmetapher ist natürlich kein Zufall – unterwegs zu sein, die Frauen darin sind, wie Mareike selbst sagt, Reisende. Man würde es ihnen von Herzen wünschen, dass sie irgendwann dort ankommen, wo sie wirklich glücklich sind.