Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch

Eine Stimme für Ehrlichkeit und Mitgefühl, gegen Ungerechtigkeit und Lüge.

Hamburg: Friedrich Oetinger Verlag 2022. 176 S., € 14,40. ISBN 978-3-7512-0163-6

Und wieder sind es drei Vierzehnjährige, die einander begegnen, nun in den Ruinen des zerstörten Hamburgs. Noch vor kurzem hätten sie nichts miteinander zu tun gehabt. Hermann, der immer noch das braune Hemd mit den Taschenklappen trägt, wenn jetzt auch ohne HJ-Abzeichen, er hätte sich nie dazu herabgelassen, mit einem Mädchen wie Traute Fußball zu spielen, galt doch: „Keine Weiber!“ Und sie hätte das gar nicht gewollt, weil ja ihre Freundinnen noch da gewesen wären, die jetzt verschwunden sind, verschüttet, ausquartiert, sie weiß es nicht. Und schon gar nicht hätten die beiden Jakob getroffen, den halbjüdischen Jungen, den der Hunger aus seinem einsamen Versteck in einem ausgebombten Haus getrieben hat, hin zur Bäckerei von Trautes Vater. Da weiß er noch nicht einmal, dass der Krieg schon vorbei ist. Hermann wird es ihm sagen, nicht ahnend, dass der andere jüdisch ist. Niemals hätte er ihm sonst anvertraut, was ihn quält: Dass sein Vater nach einem Granatentreffer beide Beine verloren hat, sich in seiner Verzweiflung nur noch brüllend verständlich machen kann. Und er, Hermann, muss sich um ihn kümmern, ihn vom Küchensofa zur Toilette im Zwischengeschoss nach unten tragen, die Mutter muss schließlich das Geld verdienen.

Jakob hat fast Mitleid mit ihm, auch dann noch, als er seine wahre Identität offenbart und Hermann nichts mehr von ihm wissen will. Denn, so erkennt Jakob: „In Hermanns Kopf ist der Krieg noch nicht wirklich vorbei, nicht der Krieg und nicht die Jahre davor, wie sollte diese Welt denn auch so schnell daraus verschwinden! Was so lange Wahrheit war, wird nicht auf einen Schlag Lüge.“

Seine eigene Geschichte erzählt Jakob den anderen nicht. Nichts davon, wie der Vater, der eine jüdische Frau geheiratet hat, als jüdisch versippt wehrunwürdig und zur Trümmerräumung abkommandiert wurde, wo er tödlich verunglückte.

Wie die Mutter, nun nicht mehr vor der „Umsiedlung“ geschützt, nach Theresienstadt deportiert wurde, da war es schon Februar, und dabei hatten sie gedacht, es geschafft zu haben.

 

boie heul doch nicht

Für einen kurzen Moment kreuzen sich die Wege dieser drei Kinder. In der wechselnden, bruchlos authentischen Perspektive von Hermann, Jakob und Traute erzählt Kirsten Boie von dieser einen Woche im Juni des Jahres 1945, verwoben mit den Erinnerungen Jakobs, in denen sie sich detailreich dem Schicksal des halbjüdischen Jungen und seiner Eltern widmet. Die Autorin hat gut recherchiert, sich intensiv mit der Zeit auseinandergesetzt, Fakten bilden die Grundierung des Textes. Die Erinnerungen an die Trümmerfelder Hamburgs, die für viele Kinder zum Spielplatz wurden, hatte die dort 1950 geborene Kirsten Boie auch selbst.

Dokumentarisch wirkt die Erzählung nie, dazu ist sie viel zu nahe an ihren Figuren dran, das Buch berührt und bewegt. Der emotionale Focus liegt auf Jakob und Hermann, ohne Schwarzweiß-Zeichnung werden sie mehr nebeneinander als einander gegenübergestellt, wie Manifestationen der beiden großen Gefühle Angst und Wut. Dazwischen steht Traute, die sich nie für „Erwachsenensachen“ interessiert hat, zunächst nur an sich selbst denkt, und erst durch die in ihrer Wohnung einquartierten polnischen Flüchtlinge begreift, wie privilegiert sie ist, mit einem eigenen Bett und dem Brot des Vaters.

In allem bleibt die Erzählhaltung konsequent urteilsfrei. Kirsten Boie will berichten, ohne zu richten, zumindest nicht über diejenigen, die damals Kinder waren. Es wäre naheliegend zu glauben, dass die Empathie der Autorin vor allem oder gar ausschließlich Jakob gilt, doch das ist nicht so. Mitgefühl im Wortsinn des Mitfühlens macht das Handeln und Denken aller drei Figuren nachvollziehbar, begreifbar.

William Faulkner, der mit dem eingangs genannten Zitat das Buch eröffnet, hat an anderer Stelle geschrieben: „Haben Sie niemals Angst, Ihre Stimme für Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit und Mitgefühl gegen Ungerechtigkeit und Lüge und Gier zu erheben.“ Genau das hat Kirsten Boie mit diesem Buch eindringlich getan: Ihre Stimme erhoben für Ehrlichkeit und Mitgefühl, gegen Ungerechtigkeit und Lüge.

Karin Haller