Joyce Carol Oates: Foxfire

„Was ist das Gedächtnis anderes als ein Aufbewahrungsort für alles, was dazu verdammt ist, vergessen zu werden? Deswegen braucht man die Geschichtsschreibung. Geschichte zu erfinden ist harte Arbeit.“

Bekenntnisse einer Mädchengang
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
München: dtv 2011


„Was ist das Gedächtnis anderes als ein Aufbewahrungsort für alles, was dazu verdammt ist, vergessen zu werden? Deswegen braucht man die Geschichtsschreibung. Geschichte zu erfinden ist harte Arbeit.“

Die Ich-Erzählerin in Joyce Carol Oates neuem Jugendroman „Foxfire“ will nicht vergessen lassen. Nimmt ihre alten Aufzeichnungen zur Hand, die sie damals, vor fünfunddreißig Jahren, auf einer ausrangierten Underwood-Schreibmaschine getippt hat. Erzählt ihre Geschichte, die Geschichte von „Foxfire“, der Mädchengang, der sie Anfang der Fünfziger Jahre angehörte, wird wieder zu „Maddy Monkey“, zu „Killer“, wie sie wegen ihrer messerscharfen Zunge auch genannt wurde.

„Foxfire“ ist mehr als nur eine Gang, es ist eine Gemeinschaft von Blutsschwestern, in denen Solidarität und Treue alles zählt. Ist Familie, wo die Herkunftsfamilie versagt. Die Väter sind im Krieg gefallen oder Alkoholiker, die Mütter gestorben oder von eigenen Problemen zerrüttet. Die Mädchen sind vierzehn, fünfzehn Jahre alt, von einer unterprivilegierten, kalten Kindheit in eine Jugend ohne Illusionen geworfen. Sie wissen, dass sie am Rand stehen, dass sie nichts zu tun haben mit den „erwählten Geschöpfen, zu denen wir nicht gehörten, wir hier im schäbigen Süden von Hammond in der übelsten Schule im ganzen Bezirk. Wir gehörten nicht dazu und würden es auch nie.“

Sie gehören nicht dazu, aber sie gehören zueinander. Und sie haben eine Anführerin, die wie ein Leitstern für sie ist, die für jede einzelne und die Gruppe die Entscheidungen trifft. Die charismatische Legs bringt ihnen bei, wie man sich zur Wehr setzt, vor allem gegen die Männer. Denn die sind der Feind. Geile, perverse Schweine, die sich an minderjährigen Mädchen vergreifen, sich ihrer Überlegenheit gewiss sind.

Zu gewiss. Denn „Foxfire will Rache“, wie es bald in flammenden Lettern zu lesen ist. Und diese Rache üben sie - mit Einfallsreichtum, Gnadenlosigkeit und auch mit Gewalt. Die Anfangszeit der Gruppe ist von Hochgefühl getragen, die Mädchen wachsen aneinander, „wandelnde Foxfire-Flammen wie die ihrer Tätowierungen“, und sie genießen das Gefühl, nie mehr einsam zu sein. Doch dann wird Legs nach Red Banks geschickt, einer gefängnisartigen Besserungsanstalt, in der sie gequält und gedemütigt wird, ihr Hass gegen „die anderen“, die Vermögenden, die Privilegierten, wächst.

Cover
So wie ihre Kompromisslosigkeit, die die Gruppe in den Abgrund führt, in Betrug, Erpressung und am Ende sogar in die Entführung eines schwerreichen Unternehmers. Der Coup geht schief, die Gang bricht auseinander, Legs verschwindet von der Bildfläche. Doch da ist Maddy schon nicht mehr dabei, hat Foxfire schon vor der Entführung verlassen, mit gebrochenem Herzen. Und so, wie Madeleine Jahrzehnte nach den Ereignissen erzählt, im Präsens, an besonders emotionalen Stellen wie der Schilderung des Aufnahmerituals atemlos, ohne Satzzeichen, spürt man, dass diese Wunde nie verheilt ist. Da hilft es auch nicht, wenn das erzählende Ich retrospektiv sich selbst zur dritten Person distanziert, Maddy agieren lässt und kein „ich“.

Madeleine berichtet von Foxfire, aber viel mehr noch von Legs: um sie, um Legs, geht es, sie wird von der Erzählerin portraitiert, mit Liebe, Ehrfurcht, Bewunderung, auch wenn im Laufe der Jahre ein reflektierenderer, rationalerer Blick dazu gekommen sein mag. Ihr fühlt sich Maddy emotional so verbunden und nahe, dass sie sogar imaginierend auserzählt, was sie nicht wissen kann, wo sie nicht dabei war, in Red Banks, bei der Entführung.

„Ihr seht, ich bin keine erfahrene Autorin – nicht ich habe meinen Stoff in der Hand, sondern er mich“, notiert die Foxfire-Chronistin an den Lesenden gewandt. Das lässt sich von der international anerkannten und ausgesprochen produktiven Joyce Carol Oates, die in Princeton Creative Writing unterrichtet, wohl schwerlich behaupten. In diesem Roman zieht sie wieder alle Register ihres Könnens: Spannungsaufbau, Glaubwürdigkeit der Figurenperspektive, Mehrdimensionalität der Charaktere, alles wie aus dem Lehrbuch. Auch, wie gesellschaftspolitische Aspekte eingebunden werden, differenziert, ohne allgemeingültige Wahrheiten zu postulieren. Oder wie Leerstellen gelassen werden; nicht die Beweggründe der Figuren stehen im Mittelpunkt, sondern ihre Taten, die für sich sprechen. Und doch wirkt „Foxfire“ nicht konstruiert, sondern fesselnd, zieht einen mit der Stärke der vermittelten Emotionen in den Text: Die Sehnsucht der wilden, irrationalen, visionären Legs nach Freiheit, Unabhängigkeit, Gleichheit, die Sehnsucht von Maddy nach Geborgenheit, Liebe, Anerkennung. Beide scheitern, es gibt kein Happy End, keine Freundschaft für immer. Was bleibt, sind Erinnerungen, die wie die Flammen-Tätowierung auf Maddys Schulter nie verblassen werden. Und ein Buch, das man nicht so schnell vergisst.

Karin Haller