Charlotte Brandi: Fischtage

Berlin: park x ullstein 2025, 304 S., € 23,70

„Die Tobsuchtsanfälle kamen das erste Mal mit dreizehn. Die anderen aus meiner Klasse sind in die Pubertät gekommen, bei mir hat jemand stattdessen bloß eine Schraube gelockert.“ Wer einer Ich-Erzählerin so einen ersten Satz in den Mund legt, macht klar, dass auf den folgenden Seiten keine Ponyhof-Idylle zu erwarten ist. Tatsächlich befindet sich die jetzt sechzehnjährige Protagonistin Ella von Troll immer noch stabil im Krisenmodus. Zwar hat sie erfolgreich eine Strategie etabliert, damit ihre unberechenbaren Wutausbrüche nicht völlig eskalieren, kann sie aber nicht mehr anwenden: Nach mehrfachem Beinbruch im Zuge einer nächtlichen Spielplatztour – besoffene Geschichte würde man hierzulande sagen – ist Rennen nicht mehr möglich. Die alternative Methode besteht nun darin, die nächstbeste Person unflätig anzubrüllen. Das ist nicht nur wenig effektiv, sondern führt auch dazu, dass Freund:innen verloren gehen. Nun gut, Ella mag Menschen ohnehin nicht so gern.

Eine Ausnahme macht sie bei ihrem um zwei Jahre jüngeren Bruder Luis. Er ist das einzige Familienmitglied, dem sie noch halbwegs verbunden ist. Auch wenn er „durch seine stille Art (…) wie ein Satellit [wirkt], der um die Bekloppten herumkreist, während meine große Schwester Merle alles tut, um so beknackt zu werden wie unsere Mutter, und unsere Mutter alles tut, um arroganten Künstlern oder Kunstkäufern in den Arsch zu kriechen, und unser Vater alles tut, um ja nicht den Anschein zu erwecken, er sei ein solider Typ.“ Als Luis plötzlich verschwindet, sind die Eltern, der „abgehalfterte Schauspieler, Endstation Kindertheater“ und die „überkandidelte Galeristin mit einem Drogenproblem“ und einer Abstammung aus dem Wiener Adel erwartungsgemäß keine große Hilfe. Aber die Geschichte kommt in Bewegung.

In ihrem Debütroman schickt die bislang als Musikerin tätige Charlotte Brandi ihre jugendliche Heldin für eine knappe Woche auf Brudersuche durch Dortmund. Als Basisstation spendiert sie ihr ein abgeranztes Schrebergartenhäuschen eines alten Bekannten, wo Ella auch einen ihrer beiden Sidekicks aufgabelt: Den Plastikforellenbarsch mit Namen Big Mouth Billy Bass, der nicht nur bei drohender Gefahr „Don´t Worry Be Happy“ trällert, sondern auch sonst gern sein großes Maul aufreißt. Mit ihm zusammen klappert Ella Orte ab, an denen Luis sein könnte. Trifft einen waaaaaahnsinnig witzigen Fußballtrainer, auf dessen Lachen „die Zigaretten von vielen Jahrzehnten kleben“, oder einen Typen, der seinen Geist vor mentalen Verwüstungen schärft, indem er Messerwerfen „praktiziert“. Sie wird von rechten Schlägern heftig verprügelt und danach von einer kampfsporterfahrenen Werklehrerin mit zweifelhafter Vergangenheit medizinisch versorgt. Dass diese Frau an Ellas Seite bleibt, ist beruhigend, am Ende landet sie dann allerdings mit einer Schussverletzung selbst in der Notaufnahme.

 

Charlotte Brandi: Fischtage

 

Irgendwann im Lauf der Lektüre von „Fischtage“ ist im Leserkopf der Junge namens Holden Caulfield aufgetaucht, was nicht so verwunderlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Charlotte Brandi hat zentrale Merkmale des literarischen Coming of Age, die Salinger in seinem „Fänger im Roggen“ 1951 stilbildend etabliert hat, übernommen: Sie setzt eine begnadete Außenseiterfigur mit erheblicher Wut auf die Verlogenheit der Eltern im Besonderen und der erwachsenen Welt im Allgemeinen in Szene. Die Orientierungslosigkeit der Protagonistin zeigt sich auch in ihren Bewegungen durch den Stadtraum, die dabei zwangsläufig sich ereignenden Begegnungen werden hier „Arschlochkarusell“ genannt. Genau, auch ein Slang, zumindest eine gewisse Derbheit auf der Sprachebene gehört zu dieser Erzählform.

Das Stromern durch die Stadt bildet sich im Übrigen auch in der Struktur des Erzählens ab. Die wiederum jenem „stark assoziativen Denken“ entspricht, das Ellas Psychotherapeut seiner Klientin im Rahmen einer Sitzung zuspricht. Vor allem am Anfang folgt – fast wie bei einem Nummern-Kabarett – eine kleine abgeschlossene Szene der nächsten: Ella bei ihrem Psychotherapeuten, ein Rant über Bob Dylan, die Beschreibung der Eltern, ein Loblied auf Harry G. Frankfurts Buch „On Bullshit“, das als eine Art Bibel der Heldin fungiert. Das alles hat auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun, wächst aber im Lauf des Romans schön zusammen.

Klar, Dortmund ist nicht Manhatttan, aber die Autorin beweist, dass ihr Wohnort schon auch als literarischer Schauplatz taugt. Was Ella von Troll von Holden Caulfield unterscheidet: Sie ist klarer konturiert, sowohl in Bezug auf ihre krass harte Außenhaut als auch ihre zarte Verletzlichkeit. Charlotte Brandi hat sie zudem mit weniger Selbstmitleid, mehr Tatkraft und sogar einem Schuss Selbstironie ausgestattet. Insgesamt ist „Fischtage“ trotz einiger Härte, sogar Brutalität unterhaltsam. Dafür sorgen nicht nur der titelgebenden Fisch, sondern auch Figurenzeichnung, überraschende Sprachbilder und der Slaptstick mancher Szenen.

Am Ende ist Ella – wie es sich im Coming of Age Roman gehört – auf ihrem Weg Richtung Großwerdung ein Stück weitergekommen. Auch wenn ihre lockere Schraube nie ganz fest sitzen wird, so wurde doch deutlich an ihr und in die richtige Richtung gedreht.

Franz Lettner