Caleb Azumah Nelson: Den Sommer im Ohr

Dance to the Rhythm!

Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Zürich: Kampa 2024, 304 S., € 24,70

Der achtzehnjährige Stephan ist der festen Überzeugung, dass „Tanzen (…) das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann …“. Egal, woher der Rhythmus kommt, der die Bewegung auslöst. Ob vom Chor in der Kirche seiner Eltern oder aus den Boxen auf einer Party, von den Bässen, die aus einem vorbeifahrenden Auto auf die Straßen Peckhams tönen, jenes Viertels im Südosten Londons, das wegen der nigerianischen Diaspora auch Little Lagos genannt wird, vom Kontrabass beim Jammen mit Del, Stephans Freundin seit Kindertagen – und mittlerweile vielleicht mehr als das –, oder aus dem Radio in Auntie Yaas afrokaribischen Laden. Dort gibt es alles, was Menschen brauchen, die fern der Heimat leben und für die Kochbananen oder Fufu-Brei nicht nur Nahrung ist, sondern „eine Möglichkeit, die Sehnsucht zu stillen." Bei Auntie Yaa ist Stephan nicht nur zuhause, weil er hier immer schon nach der Schule jobt.

Der erste von drei Sommern, über die Caleb Azumah Nelson in "Small Worlds“, wie "Der Sommer im Ohr" in der Originalausgabe heißt, erzählt, ist ein besonderer. Der Schulabschlussball, mit dem er beginnt, markiert das Ende einer Lebensphase. Die Jugend ist fast vorbei, erwachsen fühlt sich Stephan jedoch auch noch nicht. Er hängt "irgendwo dazwischen, an einem Ort, an dem alles möglich" scheint. Dieser Sommer ist eine Feier des Augenblicks, geprägt von Freude auf das Kommende, durchzogen aber auch von Abschieden und banger Ungewissheit.
Am Ende des Sommers geht dann alles sehr schnell: Stephen bekommt im Unterschied zu Del keinen Platz an der Musikhochschule, zieht sich zurück, geht in seiner Not in die Midlands nach Nottingham, um Wirtschaft zu studieren. Er stößt auch Del von sich, ist in der Fremde schließlich grenzenlos allein und einsam, verliert seinen Rhythmus.

 

nelson sommer im ohr

Der britisch-ghanaische Schriftsteller und Fotograf Caleb Azumah Nelson, 1993 in London geboren, wurde für seinen Debütroman "Open Water" (dt. "Freischwimmen") von 2021 u.a. mit dem Costa Book Award for First Novel ausgezeichnet. Auch "Small Worlds" wurde von der britischen Kritik gelobt. Es ist dann doch ein wenig überraschend, wie wenig Aufmerksamkeit das Buch im deutschsprachigen Raum erfahren hat. Dabei liegen Romane, die über die letzte Phase des Coming of Age erzählen, doch im Trend, denkt man an den Erfolg etwa von Caroline Wahls "22 Bahnen“, gar nicht zu reden von all jenen Büchern, die unter dem Label New Adult gegenwärtig boomen.

Vermutlich liegt es auch an der sehr eigenwilligen formalen Gestaltung, in der Nelson über diesen Jungen und seine fundamentale Krise an der Schwelle zum Erwachsen-Sein, schreibt. Über dessen Versuch, mit der Migrationsgeschichte seiner Eltern – und also auch ihren Traumen im Gepäck – seine eigenen Träume zu verwirklichen. Nelsons Stil ist, auch in der Übersetzung Nicolai von Schweder-Schreiners, ausdrucksstark, poetisch, wirkt trotz mancher Satzkaskaden, die sich bisweilen über eine halbe Seite ziehen, leicht. Das liegt am Rhythmus und an der kompositorischen Durchgestaltung. In den drei Teilen wird jeweils immer nur über den Sommer erzählt, was dazwischen in Stephans Welt passiert, wird so weit nötig kursorisch nachgereicht und eingeflochten. In den insgesamt dicht vernetzten Text: Zentrale Motive ziehen sich durch, Sätze oder Satzteile werden wie ein Refrain oder eine Beschwörungsformel ständig wiederholt. "Da Tanzen wohl das Einzige ist, was die meisten unserer Probleme lösen kann …" Oder: "Da Wut ein berechtigtes Gefühl ist …" Zur Melodie, die sich aus den Wörtern, Sätzen und Absätzen entwickelt, kommen die Songs, die von den Protagonist:innen gehört werden. Sie ergeben eine markante Tonspur der Black Music, sorgen für zusätzlich Tiefe.
Alles zusammen führt beim Lesen dazu, dass man sich im Kosmos des Ich-Erzählers schnell und ganz zuhause fühlen kann. In dieser Erzählung über Menschen, die in der Fremde zu überleben versuchen, aber doch immer nur für Augenblicke der Schwermut und Traurigkeit entkommen.

Im dritten Sommer, Stephan hat inzwischen das Studium abgebrochen und arbeitet in der Küche eines afrikanischem Restaurants, war vorübergehend einer jungen Frau sehr nahe, seinem Vater sehr fern, hat die Mutter verloren und ist Del wiederbegegnet, im dritten Sommer also reist er – nach Accra. In die Hauptstadt Ghanas, dorthin, wo Jahrzehnte früher seine Eltern als Jugendliche aufgebrochen waren in Richtung London. Es ist eine Rückkehr, zugleich ein Abschied. Und gibt Stephan die Möglichkeit, sich freizuschwimmen, einen Rhythmus für sein eigenes Leben zu finden.

Franz Lettner