
Sarah Jäger: Das Feuer vergessen wir nicht
Noch bevor es richtig losgeht, brennt es schon lichterloh. Ob das Feuer im Prolog jenes ist, von dem es im Titel heißt, dass es nicht vergessen werden wird, weiß man da noch nicht. Verschwiegen wird in der kurzen Prolepse auch, wer hier wen auf einem Handy-Video in ein in Flammen stehendes Haus hineinrennen sieht. Das vielleicht jenes Pflegeheim ist, in dem Ari, die Ich-Erzählerin, einmal pro Woche alten Menschen vorliest. Unter anderem der an Demenz erkrankten Frau Martin, in deren Zimmer das Mädchen auf Flint trifft, der ein brennendes Streichholz zwischen den Fingern hält. Während die alte Frau mit leuchtenden Augen auf die kleine Flamme starrt, blaffen sich das Mädchen und der Junge an wie Hunde, die einander nicht riechen können. Trotz des herben Tons hat diese Szene alles, was eine Screwball-Comedy braucht: Zwei gegensätzliche Charakterköpfe, einen geschliffenen Dialog, eine Auseinandersetzung, die gegenseitige Anziehung zumindest erahnen lässt und einen schönen Slapstick, der diese erste Begegnung konterkariert: „Küsse im Abendrot“ heißt der Liebesroman, den Ari im Schreck vor Flints Füße fallen lässt. Auf dem Umschlag des Buchs sind zwei knapp bekleidete Menschen in leidenschaftlicher Umarmung zu sehen. Bevor eine Altenpflegerin die Szene beendet, flüstert Frau Martin noch das Wort „Streichholzmädchen“. Die Streichholzschachtel bleibt derweil im Zimmer liegen. Zwar überlegt man kurz, ob eine der drei Figuren für den angekündigten Brand verantwortlich sein wird, lässt den Gedanken aber schnell wieder fallen. Zu naheliegend.
In der Folge verliert man die Katastrophe auch ein wenig aus den Augen und lässt sich gern und ganz auf die Liebesgeschichte zwischen Ari und Flint ein: Der wortkarge Junge im abgetragenen Hoodie, eine klassische Rebellenfigur, die auf dem Schrottplatz des Onkels in einem verkommenen Camper lebt, im Pflegeheim Sozialstunden ableisten muss und eine erhebliche Wut mit sich herumträgt: „Manchmal will ich wirklich, keine Ahnung … dass alles brennt.“, wird er einmal knurren. Und die Ich-Erzählerin, die immerzu in Bewegung ist, denkt und redet – und voller Angst und Sorge um die ihr nahestehenden Menschen ist. Mit der Mutter und der schwangeren Schwester lebt sie in einer kleinen Wohnung, in ihrem Zimmer verbringen die MiMis, wie sie ihre Lieblingsmenschen Milan und Mirjam nennt, sogar dann ihre Zeit, wenn Ari selbst gar nicht zuhause ist. Die drei Jugendlichen kennen einander länger, als ihre Erinnerung zurückreicht. Mit ihren jeweiligen Familien wohnen sie seit ewig alle zusammen in einem Mehrparteienhaus, in dem die Bewohner:innen gut aufeinander aufpassen. Aufmerksam und zugewandt sind sie für einander da, ohne sich zu sehr auf die Pelle zu rücken. Das ist schon fast eine Idylle, die aber auch deshalb nicht kitschig wird, weil Sarah Jäger in ihrer Figurenzeichnung genau ist: auch die Nebenfiguren werden mit wenigen Strichen aber komplex genug charakterisiert. Etwa Annemie, die als Pflegerin im Heim arbeitet. Über sie heißt es: „Erst am Ende der Frühschicht verschwindet sie mit ihrer Kosmetiktasche auf der Toilette – denn der Feierabend hat ihr schönstes Gesicht verdient, findet sie.“

Die Zusammen- und Darstellung des Ensembles war im Übrigen immer schon eine der Stärken der in Essen lebenden Autorin. Auch ihre anderen kommen im aktuellen Roman nicht zu kurz: Das gute Gefühl für Timing – das sich im Wechsel der Geschwindigkeiten, in der Spannungsdramaturgie und vor allem auch in pointierten Wortwechseln zeigt. Ein kluger Witz, der auch mal böse, aber nicht sarkastisch wird und sich gut einfügt in die klare knappe Sprache.
Für Dichte und Tiefe sorgen Leitthemen: Sei es die Frage nach dem, was von Menschen bleibt, wenn sie verschwinden. Oder natürlich das Motiv der Streichhölzer, die gleich zu Beginn in Flints Hand auftauchen und auf dem Tisch von Frau Martin vergessen werden, mit Hans Christian Andersen Erzählung märchenhaft präsent bleiben und mit dem Matchgirls' Strike im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts als historisches Ereignis referiert werden. Das alles wird fein verwoben in dieser Ich-Erzählung, in der am Höhepunkt überraschend die Perspektive gewechselt wird. Was nicht nur der Spannung förderlich ist, sondern auch einen anderen Blick auf die Beziehung zwischen Ari und Flint wirft, die der rote Faden dieses Adoleszenzromans ist.
Es ist das erste Mal, dass Sarah Jäger eine Liebesgeschichte ins Zentrum ihres Erzählens stellt. Das damit zugänglicher wird. Zwar haben auch die Protagonisten von „Das Feuer vergessen wir nicht“ interessante Ecken und Kanten, sind sogar ein bisschen sonderbar, aber weniger spröde, weniger randständig als das in den ausgezeichneten früheren Romanen „Nach vorn, nach Süden“ oder „Schnabeltier deluxe“ der Fall war. Sarah Jäger, scheint es, hat die Distanz zu ihren Figuren verringert, und lässt so auch die Lesenden näher an sie ran.
Es ist also kein Wunder, dass man hofft, dass sowohl Ari als auch Flint dem im Prolog angekündigten Feuer entkommen werden. Oder wie es der Junge formuliert: „Was brauch ich denn Geschichten, wenn da am Schluss auch die Guten sterben? Braucht doch dann kein Mensch, diese Geschichten. Kann man ja gleich Nachrichten gucken.“

