
Irmgard Kramer: 17 Erkenntnisse über Leander Blum
Unübersehbar sind sie, die großflächigen Graffiti-Malereien im urbanen Raum, auf Mauern, Hausfassaden, U-Bahn Zügen.
Unübersehbar sind sie, die großflächigen Graffiti-Malereien im urbanen Raum, auf Mauern, Hausfassaden, U-Bahn Zügen. Manchmal legal gesprayt, oft illegal, von jungen Menschen in Kapuzenpullis, die sich die Nächte um die Ohren schlagen, ihr letztes Geld für Farbe ausgeben, vor der Polizei weglaufen.
Leander und Jonas, Freunde seit ihrer Kindheit, sind solche Street Art –Künstler. Mit ihrem Tag „BLUX“ haben sie sich durch ihre künstlerischen 3 D - Arbeiten einen Namen in der Szene gemacht, wer sich dahinter verbirgt, weiß allerdings keiner. Sprayen, malen, das ist nicht nur ihr Hobby, sondern Lebensinhalt und ihr Zugang zur Realität. Für Leander ist das Haar eines Mädchens nicht einfach nur blond, er nimmt es als Farbzusammensetzung von hellem Permanentgelb, Aureolin, Zinkweiß, Caput Mortuum und Zinnober wahr. Und wenn er durch die Kanalisation von Wien wandert, sieht er nicht einfach nur dreckiges Abwasser, sondern unterschiedliche Bäche in delfingrau und eichhörnchenbraun.
Mit der Bedingungslosigkeit, mit der sich Leander seiner Kunst widmet, verliebt er sich auch, Rapunzel nennt er sie, ihren richtigen Namen kennt er nicht. Unglücklicherweise ist sie mit TCP zusammen, einem der bekanntesten Street-Art Künstler der Stadt. Doch wie so oft schweigt die Vernunft , wenn die Hormone verrückt spielen, und so hintergeht Leander Jonas sogar, nur um Rapunzel wiederzusehen . Die unverbrüchliche Freundschaft zwischen den beiden Jungen übersteht auch diese Lügen – und nimmt dennoch kein gutes Ende, Ihr Masterpiece werden Leander und Jonas nicht gemeinsam beenden können.
Mit „17 Erkenntnisse über Leander Blum“ verneigt sich Irmgard Kramer tief vor Street Art und Graffitti-Kunst, taucht ein in diese Welt, in der Adrenalin eine Rolle spielt und die Suche nach der ultimativen Wand, doch vor allem – auch hier - Freundschaft und Liebe.
Wovon aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Denn nicht nur Leanders Erzählstimme ist zu hören, sondern auch die von Elisabeth, Lila. Die sich praktisch in der Sekunde in den Jungen mit der kaffeebraunen Haut und den hypnotisch blauen Augen verliebt, in der er sich in der Klasse neben sie setzt. Für sie ist Leander „der goldene Schnitt“, einfach perfekt.

Wenn wir lesend mit Leander und Jonas durch Wien laufen, ihnen beim Sprayen zuschauen, beim Portraitmalen einer schrulligen alten Dame, ist es Frühling. Lilas Erkenntnisse über Leander Blum beginnen im September. Geschickt verschränkt die Autorin die beiden Ebenen und webt so die Geheimnisse, die das Lesen dieses Buches so spannend machen. Wieso verhält sich Leander Lila gegenüber derart widersprüchlich? Schweigsam und abweisend, dann wieder voll intensiver Zuneigung? In einem Moment sagt er, er liebt sie, im nächsten lässt er sie allein in der Geisterbahn sitzen. Sie wird nicht schlau aus ihm. Weiß sie doch nicht, was passiert ist in diesem vergangenen Frühling, in dem Leander offensichtlich den Boden unter den Füßen verloren hat. Wir Lesenden wissen es auch nicht, wobei – wir sind Lila zumindest in einem Punkt voraus. Dämmert uns doch langsam, dass Leander sie schon kannte, bevor er neu in ihre Klasse kam….
Es scheint, als ob sich Irmgard Kramer diesem Buch mit der Intensität und Hingabe gewidmet hat, die auch ihre Protagonisten auszeichnen. Ist wochenlang mit PEKS, einem renommierten Wiener Graffiti Künstler, durch Wien gewandert und hat sich von ihm in die Geheimnisse der Street Art einweihen lassen. Was sich im Roman in profunder Kenntnis dessen, worüber sie erzählt, niederschlägt. Hat, wie sie in der Danksagung erwähnt, sieben Jahre lang an dem Text geschrieben, ihn immer wieder umgearbeitet. Herausgekommen ist ein komplexer Roman, der die Lebenswelt von Jugendlichen in mehrfarbigen Schichten einfängt. Auch von den Familien der Hauptfiguren erfährt man viel, die in unterschiedlichen Konzepten, Patchwork oder nicht, alles andere als unproblematisch sind.
Handlungsführung, Themendichte und Figurenzeichnung sind so gelungen wie die Dichte, mit der die Atmosphäre der Schauplätze eingefangen wird – wir haben es, endlich wieder einmal in der Jugendliteratur, mit einem Wien-Roman zu tun. Schön auch, welche noch nicht in Endlosschleifen abgegriffenen Metaphern sie findet, um Emotionen spürbar zu machen: „Erschrocken stellte ich fest, dass Leander Blum nach und nach von mir Besitz ergriff. (…) Er nistete sich in mir ein. Er machte es sich in mir gemütlich, zog sich die Chucks aus, bestellte sich schon einmal eine extragroße Pizza und schien sich darauf einzurichten, längere Zeit bei mir bleiben zu wollen.“ Den „17 Erkenntnissen über Leander Blum“ ist zu wünschen, dass sie längere Zeit am Markt bleiben.