Um mich herum Geschichten

Für »Eine Träne. Ein Lächeln. Eine Kindheit in Damaskus« wurde Luna Al-Mousli 2017 mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet. In 44 kleinen Szenen erzählt sie darin über ihre glückliche Kindheit in Damaskus. Zum Zeitpunkt des Erzählens existierte der Kindheitsraum nicht mehr, Luna Al-Mousli war mit ihrer Familie nach Wien gezogen, schon bevor in Syrien 2011 der Bürgerkrieg ausbrach.
Auch im neuen Buch der Autorin, die sich selbst beruflich zwischen Literatur, Kunst und Aktionismus verortet, ist Syrien der Dreh- und Angelpunkt, von Glück aber ist wenig die Rede. Im Mittelpunkt von fünf Geschichten, die einander punktuell berühren, aber unabhängig von einander gelesen werden können, stehen politische Repression und Verfolgung, Gewalt, Flucht und das Leben im Exil. Ungewöhnlich ist die Perspektive, durchwegs sind es alltägliche Gegenstände, die erzählen: Im ersten Text ein Laptop über seine Besitzerin, eine alte Dame, die jetzt in Wien lebt. Für sie wird der Computer das Tor zur alten Heimat. Aktuelle Nachrichten aus der Region und von Verwandten aus der ganzen Welt, Facebookeinträge, Aufrufe zum Helfen – sie kann nicht genug davon kriegen, verstrickt sich immer mehr in die virtuelle Welt, wird in der realen immer weniger. In der zweiten Geschichte berichtet eine stolze Doktoratsurkunde in leicht beleidigtem Ton – sie hängt so uneinsehbar – vom Leben des Herrn Doktor. Es folgt eine Oud, »das Sprachrohr der Seele« eines unglücklichen Musikers, der zwischen Liebe, Krieg, Flucht und Exil zugrunde geht. Die beiden letzten Geschichten werden aus der Sicht eines guten Anzugs und eines Wohnungsschlüssels erzählt: ersterer wird für freudige Ereignisse gekauft, auf vielen Hochzeiten getragen, bleibt dann aber zusehends länger im Kasten hängen und dient am Ende dazu, seinen Träger im Foltergefängnis zu wärmen. Auch der Schlüssel hat von früher Gutes zu berichten, sperrt er doch die Wohnung einer Großfamilie auf, von der die Eigentümerin sagt: »Im engsten Raum haben tausende Freunde Platz«. Am Ende aber sperrt er zu und die Welt aus. Nach Jahren des Bürgerkriegs ist die Familie in alle Winde zerstreut, einzig der Schlüssel und seine Besitzerin sind noch in der Wohnung: »Die Winter werden kälter. / Wir bleiben.«
Schnörkellos und direkt, in einem alltäglichen Ton, der den Dingen angemessen ist, erzählt Luna Al-Mousli über ein zerstörtes Land und seine Menschen, die zwar eine Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit haben, aber in der Gegenwart verloren sind. Es ist Syrien. Könnte Iran sein, die Ukraine … Lesen verändert nichts unmittelbar, sorgt aber jedenfalls für Mitgefühl.

Franz Lettner

almousli ummichherum

Luna Al-Mousli: Um mich herum Geschichten

Frankfurt: Edition Westend 2022, 150 S., € 16,50, ab 12 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"