
Mein Name ist Mina
David Almond gehört zu den wichtigsten britischen Kinder- und Jugendbuchautor*innen der Gegenwart. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk war am deutschen Buchmarkt zuletzt aber kaum präsent. Almonds Bücher gelten als schwierig. Schwierig zu verkaufen. Schwierig zu vermitteln. Schwierig zu lesen. Das dem nicht so ist, beweisen zwei seiner besten Kinderromane, die nun in Neuausgaben im Verlag Freies Geistesleben zu haben sind. Beide Bücher teilen sich den gleichen Schauplatz und lohnen die Lektüre, wenngleich sie in ihrer literarischen Ausformung verschiedene Wege einschlagen.
Almonds kinderliterarisches Debüt »Skellig« wurde ein Welterfolg, zum Theaterstück und sogar zur Oper umgearbeitet, und ist bis heute sein bekanntestes Werk. Darin entdeckt der zwölfjährige Michael in der baufälligen Garage seines neuen Zuhauses in der Falconer Road eine spinnwebenbedeckte und bis auf die Knochen abgemagerte Kreatur, halb Mensch halb Tier. Mit Flügeln am Rücken. Ein Engel? Und kann der womöglich helfen, seine kranke kleine Schwester gesund zu machen? Oder ist es eher ein Todesvogel? Gemeinsam mit seiner Nachbarin und neuen Freundin Mina kümmert sich Michael um das Wesen, das sich mit ihnen unterhält, um Aspirin bittet und gierig das Essen vom Chinesen an der Ecke verschlingt. Bis zum Ende bleibt die befremdende Gestalt des Vogelmenschen uneindeutig, ja es bleibt sogar unklar, ob dieser Skellig überhaupt existiert oder bloß in der Fantasie der beiden Kinder lebt. Genau dies ist aber eine der Stärken in Almonds Erzählen insgesamt. Er führt seine Leser*innen weg von gesichertem Terrain an Orte, wo Unerklärliches sich ereignet und das Unheimliche lauert. Wo Traum und Wirklichkeit mitunter schwer auseinander zu halten sind. Eine Art metaphysischer oder mystischer Realismus, der allerdings nie zum Esoterisch-Schwurbelhaften verkommt. Davor schützt den Autor sein immer auch aufblitzender Humor und seine Fähigkeit, in ein und derselben Szene mit leichter Hand unterschiedliche Gefühlslagen miteinander so zum Klingen zu bringen, dass alsbald über allem eine Art Zauber liegt. Zudem verfügt Almond über eine erzählerische Bodenhaftung, die aus dem biografisch selbst Erlebtem schöpft, und über die Fähigkeit, interessante, eigenwillige Figuren überzeugend zu gestalten.
Figuren wie Skellig. Oder wie Mina, Michaels störrisch-rebellische Freundin in der Falconer Road, die die Kunst liebt, aber die Schule hasst, die mit großer Lust Gedichte verfasst und voller Wut schäumt, weil ihre Schulaufsätze als mangelhaft bewertet werden. Themenverfehlung, meint die Lehrerin. Aber was, wenn die Geschichte, die man schreibt, plötzlich andere Wege gehen wollte?
Dieser unkonventionellen Mina, die es schwer hat mit den anderen und auch mit sich selbst, hat Almond Jahre nach »Skellig« sein leichtfüßigstes, freiestes und formal vermutlich unkonventionellstes Buch gewidmet, in dem die Heldin in einer Art Tagebuch aus ihrem Leben – vor Skellig – berichtet. »Mein Name ist Mina«, übersetzt von Almonds seit langem bewährter deutscher Stimme Alexandra Ernst, bedient sich unterschiedlichster Textsorten, wechselt dabei auch die Typografie innerhalb und zwischen einzelnen Einträgen, hebt damit einzelne Wörter oder Sätze aus Minas Gedanken- und Gefühlswelt bedeutungsvoll hervor und ist trotz Icherzählerin somit überaus vielstimmig. Das Cover der Neuausgabe zeigt Mina auf einer Schaukel, mit einem Buch und vor dem Vollmond durch die Luft schwebend. Ja, das ist sie auch: frei und unangepasst, ein bisschen Träumerin, ein bisschen Hexe. Eine, die William Blake zitiert und den Flug der Vögel studiert. Aber auch eine, die im nahen Park den Eingang zur Unterwelt sucht, um wie Orpheus den geliebten Menschen, den toten Vater, nach Hause zu holen. Und eine, die die schönsten und ungewöhnlichsten Alltagsaktivitäten festzuhalten vermag:
»Halte deinen Kopf in den Händen und werde dir bewusst, dass du außergewöhnlich bist. / Erinnere dich daran, dass du nur Staub bist. / Denke daran, dass du ein Stern bist. / Stelle dich unter eine Straßenlaterne. / Tanze und glitzere in ihrem Licht. / […] / Lausche auf die zerbrechlichen / und kraftvollen Dinge in deinem Herzen.«
Klaus Nowak

David Almond: Mein Name ist Mina
Stuttgart: Freies Geistesleben 2023, 272 S., € 20,00, ab 11 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"