Marthas Boot
Man hat’s nicht leicht, wenn man die Heldin in einem Kinderroman von Polly Horvath spielt. Denn die Kanadierin erzählt gern von Waisenkindern, die sie mit reichlich schräg-skurrilen erwachsenen Figuren umstellt. Diesmal kommen die Eltern schon auf Seite 1 bei einem Tsunami ums Leben und die eigenwillige Großtante Martha, die als einzige Verwandte bereit ist, gleich vier verwaiste Schwestern aufzunehmen, lässt die Autorin auch schon vor Seite 10 sterben. Was Fiona (14), Marlin (12), Natasha (10) und Charlie (8) daraufhin bleibt, ist ein Haus (»Pine Island Home«, so der Originaltitel), etwas Geld, das vorerst fürs Nötigste reicht, und der unbedingte Wille, sich durch nichts und niemanden trennen zu lassen. Jugendamt? Fürsorge? Bitte nicht! So wacker sich die vier in ihrer erzwungenen Selbständigkeit auch schlagen, irgendwer muss den Vormund spielen, und sei es der versoffene Schriftsteller Al, der als »Mülltroll« auf dem Nachbargrundstück haust und Kinder nicht ausstehen kann. »Grässliche Dinger mit klebrigen Marmeladenfingern.« Na, vielleicht klappt’s ja doch mit der von den Mädchen erhofften Adoption durch die mitfühlende und unterstützende neue Schulleiterin?
Denkste! Die erzählerischen Wege von Polly Horvath führen immer an den Mainstream-Kinderbuch-Konventionen und den damit verbundenen Erwartungen vorbei. Dafür lässt uns die Autorin darüber nachdenken, wie wir das Wilde und Unberechenbare in unseren Alltag integrieren, und was es braucht, um Verluste wegzustecken und glücklich oder zumindest gestärkt und halbwegs ohne tiefe Schrammen durchs Leben zu kommen.
Fein austariert zwischen Ernst und Komik erzählt Horvath einen Ferienhaus-Abenteuerroman der etwas anderen Art, im Fokus bleiben dabei immer die vier ganz unterschiedlich gezeichneten Mädchen, die man als Leser*in alle fest ans Herz drücken mag. Egal ob mit oder ohne Marmeladenfinger.
Klaus Nowak
Polly Horvath: Marthas Boot
Stuttgart: Freies Geistesleben 2021, 247 S. | € 18,50 | ab 11 Jahren