Marina
Marina. Wunderbares Mädchen. Das klang einmal nach heiler Schlagerwelt und Italienurlaub. Beim Cover von Heidelbachs neuem Bilderbuch denkt man eher an die Flüchtenden, die im Mittelmeer ertrinken. Es zeigt ein Mädchen aus dem Meer. Dunkle Haut und krauses Haar, nur eine Sandale, dafür eine Schwimmweste – und einen Oktopus-Anhänger um den Hals. „Wir haben sie am Strand gefunden, mein Bruder und ich.“ Gemeinsam geht es zur Mutter nach Hause. Ein Zuhause in einer Welt, die in der bildlichen Darstellung beunruhigt. Zeigt Heidelbach auf der ersten Doppelseite über der Strandszene noch einen weiten, offenen Himmel, der mehr als die Hälfte des Bildes dominiert und zum Fantasieren und Spekulieren (über Marinas Herkunft?) einlädt, ist auf der folgenden Doppelseite derselbe Strand im Gegenschuss von graubraunen Wohnburgen zubetoniert, die den Blick bloß auf ein winziges Stückchen Himmel frei geben. So wenig Aussicht! Festung Europa? Man vermeint hier Isolation und soziale Kälte regelrecht zu spüren.
Aber Marina lebt sich ein. Sie kommuniziert vorerst nur mit Kopfschütteln und Nicken, versteht aber genug, um sich zu wehren und einem rassistischen Vater auf dem Spielplatz kräftig ins Bein zu beißen, als der zum jüngeren Bruder und Icherzähler sagt: „Zu lang im Ofen, deine Freundin ...“ Mag sein, dass man ih schon viel genommen hat, eins aber wird sie sicher nicht hergeben: ihre Würde. Beim Abendessen – sie liebt Fisch – , redet Marina immer mehr und erzählt alsbald von ihrer Herkunft: Eine Meerprinzessin sei sie, mit vielen Schwestern und großer Familie unter Wasser und allem, was man sich nur wünschen könne, „ein Schloss mit Park und Swimmingpool und eine Achterbahn mit Wasserautos.“
So gibt es dann doch noch strahlend helle, leuchtende Doppelseiten mit einem maritimen Vergnügungspark, einer Art Kraken-Autodrom, Garnelen-Fahrzeugen, Palästen in beeindruckender Muschel-Architektur und Meerprinzessinnen, die auf einem Hai reiten. Der jüngere Bruder ist fasziniert, aber der ältere rollt nur mit den Augen. Alles nur Lügen!
So wie die beiden Buben dann abends in ihren Betten über Marina und über Wahrheit, Lüge und Fantasie debattieren, so hockt man auch lange über der märchenhaften Geschichte, die einem Heidelbach hier auftischt. Sie ist einfach und kompliziert zugleich, mehrdeutig und anspielungsreich, verwebt viele Themen der Zeit souverän miteinander, bewegt und lässt lange nicht los. Nikolaus Heidelbach bleibt auch mit diesem Buch eine wichtige, unbequeme Stimme in der Kinderliteratur. Marina. Wunderbares Mädchen.
Klaus Nowak