Lost – In der Wildnis hört dich niemand
»Die Welt ist nicht zahm.« Die ersten Gedanken, die der erste Satz von »Lost« auslöst, gehen nicht in die Richtung, die dieses Buch nehmen wird. Eher lässt er gegenwärtig an Angriff und Verteidigung denken, an Autokraten, Lieferketten, Inflation und gesellschaftspolitische Verwerfungen. Sehr kompliziert das alles. Mindy McGinnis Setting dagegen ist verhältnismäßig einfach. Ein junges Mädchen will mit Freund*innen in der Wildnis der Smokey Mountains den Schulschluss feiern. Irgendwo am Appalachian Trail, keine Menschenseele weit und breit, nur Zelte, Lagerfeuer und sehr viel Bier, das die Jungs anschleppen. Als Ashley spät nachts angetrunken zum Pinkeln aus dem Zelt torkelt, erwischt sie ihren Freund mit einer anderen, bricht ihm mit einem Schlag die Nase und rennt gekränkt, wütend, planlos in den Wald hinein. Sie stürzt, verletzt sich schwer am Fuß, wird bewusstlos.
Damit ist der erste Teil – »Bevor ich mich verirrte« – nach 30 Seiten vorbei. Die nächsten 15 Tage und 150 Seiten irrt die junge Frau, eine ausgezeichnete Crosscountry-Läuferin, zäh und gnadenlos sich selbst und anderen gegenüber, grundsätzlich überlebensfähig also, durch die Wildnis. Bloßfüßig und mit nichts als T-Shirt, BH, Jeans und Unterhose am Leib und einer Verletzung am Fuß, die sich entzünden wird. Zehn Seiten pro Tag sind die Leser*innen allein mit Ashley und der Natur, die nicht zahm ist.
Das deutsche Debüt der amerikanischen Autorin ist überraschend: Obwohl alle Bestandteile dieser Erzählung aus Büchern und Filmen bekannt sind – klassisches Abenteuer, Survival in der Wildnis, keine dramaturgischen Kniffs, keine Twists, nichts – bleibt die Spannung bis zum Ende hoch. McGinnis präsentiert das Abenteuer einer ambivalenten Figur gut getimt. Während sie ihre Protagonistin angeschlagen durch die Wildnis torkeln lässt, rollt sie nach und nach deren Lebensgeschichte auf, baut immer wieder Szenen eines brutalen Überlebenskampfes ein, steigert die Dramaturgie, ohne unglaubwürdig zu werden, obwohl sie weit geht. Klar ist, die junge Frau wird überleben. So will es das Genre. Trotzdem ist man irgendwann überzeugt: Sie wird sterben, jetzt. Aber sie steht auf und schleppt sich weiter. Für alle, denen der Rasen im Park oder der Trail im Mittelgebirge zu zahm ist …
Franz Lettner
Mindy McGinnis: LOST. In der Wildnis hört dich niemand
224 S., € 14,40, ab 14 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"