Kind zu verschenken
Hikikomori nennt man in Japan das Phänomen jugendlicher »Nesthocker«, die auch als 30+-Erwachsene nicht zuhause ausziehen wollen. Ein Begriff, der Hiroshi Itos kindlicher Heldin und Ich-Erzählerin vermutlich völlig fremd ist, will sie sich doch schon im zarten Alter von eindeutig -10 eine neue Familie suchen. Schuld daran ist in ihren Augen der neugeborene Bruder, ein »kleiner Affe«, der den ganzen Tag bloß schreit und kackt und stinkt. Und trotzdem hat Mama nur Augen für ihn. Da kann man schon mal die Nerven verlieren, sich in einen Pappkarton setzen, mit allerschönster Handschrift »Kind zu verschenken« drauf schreiben und abwarten, wer einem mitnimmt. Denn anders als Lindgrens Pelle, der in den Schuppen im Garten zieht und dort wartet, ob er seine Eltern um ihn weinen hört, plant die Heldin hier ihre Zukunft aktiv und mit neuem Personal. »Jetzt beginnt mein neues Leben. Alle werden sich um mich reißen.« So stapft das Mädchen davon. Dass ihm die Mutter dabei hinterherwinkt und nachruft (»Sei aber rechtzeitig zum Abendessen zurück, ja?«), zeigt die Diskrepanz der Perspektiven von Elternteil und Kind und ist eine von vielen gut gesetzten Pointen in dieser zeitlosen Komödie vom erstgeborenen Kind, das sich vom Thron geschubst fühlt.
Hiroshi Ito inszeniert sein Stück gekonnt und aufs Wesentliche reduziert, sowohl im Text wie in den Bildern (Schwarzweiß mit sparsamen und damit effektvollen Akzenten in Rot). Ein Kind, ein Karton. Auftritt und Abgang von Passanten. Dazu viel Dialog in knappen Sätzen. Mit wenigen Strichen wird ab und an Raum und Landschaft angedeutet, ansonsten volle Konzentration auf die handelnden Figuren und die Begegnungen mit potentiellen Adoptiveltern. Als Leser:in bleibt man gespannt und leidet mit. Das Kind hofft, wird ein ums andere mal enttäuscht und muss sich vieles schönreden: »Wie gut, dass sie mich nicht mitgenommen hat. Leute, die so nett aussehen, sind im Herzen Teufel.« Seinerseits hat das Kind jedoch ein gutes Herz und nimmt in seinem Karton nach und nach einige sprechende Tiere auf. Alles besser als ein kleiner Bruder! Und vielleicht zieht man ja gemeinsam in ein neues Heim? Dann hat der Hund aber noch eine wichtige Lektion zu lernen: »Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin der Star. Du bist bloß die Zugabe.« Mit solchen Sagern vergehen die 120 Seiten so vergnüglich, dass das Ende etwas rasch und plötzlich vor einem steht. So plötzlich wie die Eltern mit dem Äffchen vor der Heldin. Das ist vielleicht wenig überraschend, aber dafür vollkommen in Ordnung. Und man wundert sich höchstens noch, wie es fast 30 Jahre dauern konnte, bis wir dieses zeitlos gültige Werk – im Original ist es 1995 erstmals erschienen – im schönen Ton von Ursula Gräfe in deutscher Sprache genießen dürfen.
Klaus Nowak
Hiroshi Ito: Kind zu verschenken
Frankfurt: Moritz 2023, 120 S., € 14,40, ab 6 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"