Irgendwo wartet das Leben
Die 12 Siebtklässler*innen in Fawn Creek/Louisiana kennen sich alle seit ihrer frühesten Kindheit. Ihr Alltag in einer Kleinstadt, in der es nur ein Restaurant und recht überschaubare Freizeitangebote gibt, ist von Eintönigkeit und festgefahrenen Normen geprägt. Auch die soziale Klassenzusammen- setzung bedient sämtliche Klischees: allen voran eine fiese Mädchen-Clique, die den Ton angibt und gute Verbindungen zu den athletischen Football-Spielern hat, unfreiwillige Klassenclowns sowie ein Trio gläubiger Christinnen. Und dann sind da noch die beiden Außenseiter*innen Greyson Broussard und Dorothy Doucet, die davon träumen, eines Tages die Enge und Einöde einer Kleinstadt hinter sich zu lassen. Dorothy hat vor allem mit ihrer Schüchternheit zu kämpfen. Der sensible Greyson interessiert sich im Gegensatz zu seinem »bullyhaften« Bruder kaum für Entenjagd, sondern arbeitet im Geiste heimlich lieber an seiner ersten Modekollektion.
Eines Tages taucht ein neues Gesicht in der Schule auf: Orchid Mason riecht nach Zitrusfrüchten, trägt immer eine Blume im Haar und bringt mit ihrem weltoffenen und freundlichen Auftreten die Gruppendynamiken der Schule durcheinander. Orchid fasziniert, schließlich erzählt sie spannende Geschichten von ihren bisherigen Wohnorten wie New York oder Paris. Und sie scheint bei jedem Menschen hinter die Fassade blicken zu können und etwas Positives zu sehen. Besonders die stille Dorothy und Greyson gewinnen mit ihr eine Freundin, die sie aus ihren »Schneckenhäusern« lockt und sie ermutigt, mit den vorherrschenden Normen brechen. Aber nicht alle finden Orchid toll, besonders Klassentyrannin Janie ist genervt von der ihr dadurch entzogenen Aufmerksamkeit. Und irgendetwas scheint mit der Neuen auch nicht zu stimmen. Denn was verschlägt jemanden aus den größten Metropolen der Welt ausgerechnet nach Fawn Creek? Bei einem Tanzabend im Nachbarort (einem sozialen Highlight der Region) kommt es zur großen Konfrontation …
Sorgsam und raffiniert entspinnt Erin Entrada Kelly in diesem autobiografisch geprägten Roman (sie ist selbst in einer Kleinstadt in Louisiana aufgewachsen) die Persönlichkeiten und individuellen Lebensumstände ihrer Figuren. Mit jedem Kapitel wechseln die Perspektiven, wodurch anfangs unsympathisch auftretende Charaktere an Anteilnahme und Zuneigung gewinnen. Und am Ende fast jede*r eine Chance erhält, verstanden zu werden.
Verena Weigl
Erin Entrada Kelly: Irgendwo wartet das Leben
München: dtv 2023, 352 S., € 16,50, ab 11 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"