Ganz oben fliegt Lili
Ein kluges und unterhaltsames Tierbuch
Sie heißt Lili und schlüpft in einem Topf Vergissmeinnicht. Der steht zwar auf der Innenseite eines Fensterbretts unterhalb einer ziemlich dreckigen Glasscheibe, trotzdem sind das erste, was Lili sieht, Berge: "Hoch und mächtig, grasgrün und waldig, mit Felsen und schneebedeckten Gipfeln." Man sehe nur mit dem Herzen gut, hat ein kleiner Prinz vor vielen Jahren behauptet, hier trifft das jedenfalls zu. Es ist der uralte Ruf der Schwebfliegen, der die Alpen für Lilis innere Augen als Sehnsuchtsort sichtbar macht. Ziehen die kleinen Tiere doch im Herbst Richtung Süden über Alpen und Mittelmeer bis Nordafrika. Nach einem noch kratzig und ungeölten "Hurra" und "Los geht’s“, es sind Lilis erste Worte, fliegt sie schnurstracks Richtung Licht – und knallt gegen eine Fensterscheibe: "Se*tsam. Wo bin ich da b*oß reingerempe*t?" Das Tier hat nicht nur kurzfristig die Orientierung, sondern – und zwar für fast den ganzen Rest des Buchs – die Fähigkeit verloren, ein "l" auszusprechen.
Damit sind wir schon mitten in der Geschichte einer großen sehr kleinen Heldin, der Julia Willmann alles mitgegeben hat, um die Herzen der Leser*innen zu erobern: Klein ist sie, aber selbstbewusst, so wort- wie zugewandt, an der Welt interessiert und kleinen Umwegen nicht abgeneigt, obwohl sie ihr Ziel fast immer vor Augen hat. Ihre wildschöne Redensart und der kleine Sprachfehler steigern die Sympathie noch einmal deutlich, man kann nicht anders als die k*eine F*iege *i*i zu *ieben. Und ihr gespannt auf jener Reise zu folgen, die ihren Ausgang laut Karte (auf dem Vorsatz) östlich von Berlin hat. Dabei trifft sie auf allerhand meist freundliche Tiere: den Steinkauz *udwig im goldenen Käfig, auch Leiter eines Vogelchors, den lädierten Käfer Knorrte („Dir fehlt ein L. Und mir fehlt ein Bein. So ist das eben. Mal krriegt man was. Mal verrliert man was.“), für den Lili über ihre Reise in einem Tagebuch berichten wird; eine Gruppe von Fruchtfliegen, mit denen sie gemeinsam als blinde Passagierin von Dresden bis Frankfurt am Main im Auto reist; geschäftstüchtige Kakerlaken, schöne Schmetterlinge, schnelle Schnecken … Sie wird von guten Winden getragen und von bösen herausgefordert, von einem heftigen Gewitter überrascht, findet auf einer großen abgemähten Wiese nichts zu fressen und auf einer Verkehrsinsel mitten in der Großstadt eine wild blühende Festtafel: "Die We*t schmeckt sehr gut, auch wenn man nicht weiß, wie sie heißt.“
Mit „Ganz oben fliegt Lili“ hat Julia Willmann nicht nur ein kluges und unterhaltsames Tierbuch geschrieben, sie bedient sich in Dramaturgie und Motiven auch beim Abenteuer und der Roadnovel. Die schnellen und abwechslungsreichen Szenen sind teils rührend und teils witzig gestaltet, vor allem auch in den lebhaften Dialogen mit den anderen Tierfiguren, denen durchwegs angemessene Rollen auf den Leib geschrieben wurden. Der unscheinbaren Schwebfliege, die mittels Mimikry Fressfeinde täuscht und neben der Biene die wichtigste Bestäuberin ist, hat Julia Willmann mit dieser Erzählung ein Denkmal gesetzt. Apropos Biene, Alexandra Junges farbsatte Illustrationen sorgen schon auf dem Cover dafür, dass einem unweigerlich die Biene namens Maja einfällt. Und hört man später den vorwitzigen Ton in Lilis Rede, denkt man, sie würden einander gut verstehen, diese beiden Insekten.
Franz Lettner
Julia Willmann: Ganz oben fliegt Lili
Wuppertal: Peter Hammer 2023, 144 S., € 15,50, ab 8 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"