Erinnerst du dich?

Ein Picknick an einem strahlend hellen Sommertag: Vater und Mutter unterhalten sich auf einer blaukarierten Decke sitzend, das Kind streunt auf der Wiese herum – und steht schließlich mit einer Handvoll Beeren vor seinen Eltern. Ein Kindergeburtstag: der Vater bringt das Geschenk, ein rotes Fahrrad, die Mutter hält beim ersten Versuch – die Fahrt endet mit einem Sturz in einen Heuhaufen und fröhlichem Gelächter. Eine Sturmnacht: Draußen Donner und Blitz, drinnen fällt der Strom aus. Das Kind ruft im dunklen Haus nach den Eltern – eine alte Sturmlampe des Großvaters sorgt für Licht und Orientierung. Diese drei ganz gewöhnlichen und zugleich emblematischen Szenen einer Kindheit reiht Sydney Smith in der ersten Hälfte seines neuen Buches als – schöne – Erinnerungen aneinander. Erinnert werden die drei Erlebnisse gemeinsam von einer Mutter und einem Kind in der ersten Nacht an einem neuen Ort. Dieses aktuellste Ereignis, der Umzug, folgt in der Geschichte als vierte erinnerte Szene: Die beiden sitzen im vollbepackten Auto, ein Mann – der Vater? – reicht dem Jungen einen Teddybären durch das Autofenster und winkt. Mutter und Kind fahren durch dichten Verkehr und kommen im Schneetreiben in der Stadt und der neuen Wohnung an. Diese erste Nacht ist die Erzähltzeit: Sidney Smith verschafft uns Zutritt zu einen äußerst intimen Zwiegespräch, in dem zwei Menschen sich der Herausforderung von Abschied, Trennung und Neuanfang stellen. Mit dem Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer kann man vielleicht von einem Moment der »narrativen Notwendigkeit« sprechen, einer Szene in der Kindheit des Jungen, die in eine Geschichte eingebettet werden muss. Und genau das macht Sydney Smith hier zweifach: Indem er diesen Moment im Bilderbuch zu einer weiteren, zukünftigen Erinnerung werden lässt, und indem er diese Geschichte als Bilderbuch erzählt. Wie er das macht, ist meisterhaft: Ein Bett als Erzählraum und -ort; eine strenge Dramaturgie, die einen Rhythmus vorgibt, der in der Gestaltung des Textes, in den Kompositionen der Doppelseiten und ihrer Abfolge wie in den einzelnen Panels wirksam wird; die Unschärfe an den Bildrändern in der Darstellung der erinnerten Szenen und die harten Kanten jener der Gegenwart; die Wahl der Bildaus- und Anschnitte; die oftmaligen Perspektivenwechsel; die Blicke der Protagonist:innen, die immer wieder auch ins Leere gehen; die dunkle Farbpalette und der strahlend, fast grelle Weißraum auf manchen Seiten; überhaupt das Licht: Wie es dem Verlauf einer Nacht folgt und am Ende, wenn über dem Stadthorizont die Sonne aufgeht, die letzte Szene milchig sanft erstrahlen lässt. Der Junge liegt im Bett neben seiner Mutter, den Teddybären im Arm. Darunter der Satz: »Ja, daran werde ich mich erinnern.«
Ja, dieses Bilderbuch werde ich nicht vergessen.

Franz Lettner

smith erinnerstdudich

Sydney Smith: Erinnerst du dich?

Aus dem Englischen von Bernadette Ott
Stuttgart: Aladin 2024, je 40 S., € 18,50, ab 5 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"