Eine Stadt

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist die Stadt in Romanen und Gedichten, später auch in Bilderbüchern, nicht nur Handlungsraum, sondern auch Mitspielerin: von Berlin, wo Erich Kästners Emil strandet, über Roberto Innocentis Bilderbuch-Großstadtdschungel, in dem sich „Das Mädchen in Rot“ verirrt, bis zum Wien der Gegenwart, durch das Irmgard Kramer ihre Graffiti Künstler schickt. In diese Tradition reiht sich nun Linda Wolfsgruber ein – und interpretiert sie doch überraschend anders.
Über das hell ausgeleuchtete Zwischengeschoss einer U-Bahnstation betritt man „Eine Stadt“. Einige wenige Passanten bewegen sich entspannt die Treppe nach oben oder kommen herunter, niemand scheint es sonderlich eilig zu haben. Man blättert einmal um – und steht schon draußen. Von einer Straßenecke aus richtet sich der Blick auf locker verschachtelte Fassaden in hellen Farben, gelb, rosa, (rot)braun, ein blaues Hochaus mit weit auskragenden Balkonen lugt hervor, mittig ist ein Stück violett eingefärbter Himmel zu sehen. Im Vordergrund fährt eine Figur auf einem Fahrrad durch das sonst menschenleere Bild.

An einem Tag im Frühjahr beginnt der Spaziergang durch diese gänzlich autofreie und fast menschenleere Stadt, mit dem ersten Schneefall wird er enden. Dazwischen Seite für Seite: Hochhausfassaden unterschiedlich strukturiert, aber immer hell und bunt, Einsichten auf kleine Plätze, manchmal eine Durchsicht auf den Himmel, den See oder eine riesige Baustelle. Nur wenig Natur – hier und da vereinzelt junge Bäume, eine kleine Blumenwiese. Die Aus- und Anschnitte sowie die Einstellungen ändern sich, was immer gleich bleibt: auf jeder Illustration ist nur eine Figur (oder Figurengruppe) zu sehen, im sachlich, aber keineswegs kühl formulierte Text wird sie jeweils kurz vorgestellt: die schwangere Marisa, die später durch die Welt reisen will, die Bibliothekarin Elvira, deren Mann im Pflegeheim lebt, Josef, der sich nach bestandener Prüfung auf den Zivildienst freut, Kathy, die hier nur zum Putzen herkommt …
So still wie man in einem Bilderbuch eine Großstadt kaum je gesehen, staunend wandert der Blick so langsam über die Seiten, wie die Figuren durch die Straßen flanieren. Die an Gemälde von de Chirico erinnern. Auf den sich Linda Wolfsgruber im Nachwort auch bezieht. Dort ist auch zu lesen, dass sie immer wieder und zu allen Jahreszeiten ziellos durch diese Stadt gewandert ist, die alle, die einmal dort waren, als Seestadt Aspern in Wien identifizieren können. Was letztendlich unerheblich ist. So wie das Alter jener Menschen, die dieses Buch lesen können: Jede und jeder wird seinen eigenen Weg durch diese Stadt finden.

Franz Lettner

wolfsgruber eine stadt

Linda Wolfsgruber: Eine Stadt – Begegnungen

Buchgestaltung: Christiane Dunkel-Koberg. Mannheim: Kunstanstifter 2025, 44 S., € 25,70, ab 7 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "Die Furche"