Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963

Birmingham, Alabama, 1963. Es gelten noch immer die rassistischen Gesetze gegen Afroamerikaner:innen, Gruppen des Ku Klux Klan erstarken erneut und am 15. September detonieren Bomben während der Sonntagsschule in der Baptisten-Kirche in der Sixteenth Avenue. Vier Mädchen sterben. Addie Mae Collins, Denise McNair, Carole Robertson und Cynthia Wesley. „Der Preis für einen Tag in einer Stadt“. So weit die bitteren historischen Tatsachen, die den über weite Strecken hochkomischen Ton im Debütroman von Christopher Paul Curtis gegen Ende hin aus dem Nichts heraus umschlagen lassen in verzweifelte Überlegungen des Icherzählers Kenneth. Der ist an jenem Sonntag Augenzeuge und wähnt zunächst seine jüngere Schwester unter den Opfern. Wer um Himmels Willen macht so was? Wie kann das sein? Dabei ist der zehnjährige Kenneth den weiten Weg aus Flint, Michigan, gemeinsam mit seiner Familie doch nur wegen seinem älteren Bruder Byron hierher gekommen. Weil der wieder mal was ausgefressen hat. Ein Streich zu viel. Byron färbt sich trotz Verbots der Eltern die Haare, Byron macht krumme Dinge mit seinem besten Freund Buphead, Byron küsst an einem superspitzenkalten Samstag selbstverliebt sein Spiegelbild und bleibt mit Zunge und Lippen am Rückspiegel des Familienautos kleben. Nachdem ihn Mutter Wilona trotz seines logischerweise undeutlich artikulierten Flehens – „Nich! Momma! Mom-ma! Hif“ – losgerissen hat und Vater Daniel ihn gehörig verspottet („Na, du großer Liebhaber, jetzt kann dich niemand mehr Hotlip nennen, was?“), soll nun die Oma in Alabama ihm sowas wie Zucht und Ordnung beibringen.

Jedes Kapitel dieses Buchs ist eine pointierte, zugespitzte Geschichte für sich. Mit Titeln wie „Bobo Brazil trifft den Scheich“ oder „In Gottes Bart verwickelt“. Alles auch perfekt zum Vorlesen geeignet. Turbulente Szenen einer Familie, in der es mitunter drüber und drunter geht, in der man sich aber innig liebt und zusammen hält. Das gilt selbst für das von Kampf und Rivalität bestimmte Verhältnis von Byron und Kenneth. Denn wehe, es kommt ein anderer seinem kleineren Bruder blöd. Dann wird Byron sofort zum Beschützer, der seine Fäuste sprechen lässt. Aber Gewalt ist halt keine Lösung. Das soll Byron lernen und so ist man unterwegs nach Birmingham. Das dauert aber. Losgefahren und damit der Buchtitel eingelöst wird erst auf Seite 123, während es im nördlichen Michigan „ungefähr hundertachtundfünfzig Millionen Grad unter Null“ hat und die Heizung der Familie ausgefallen ist. In den Südstaaten erwartet die Familie dann eine ganz andere Art von Kälte.

„Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963“ ist erstmals vor rund 30 Jahren erschienen. 1997 war die deutsche Übersetzung von Gabriele Haefs für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Die Neuausgabe verdankt man einerseits wohl dem leider immer noch schwelenden Rassismus, aber auch verstärktem gesellschaftlichem Engagement und Bewegungen wie „Black Lives Matter“. Als Roman, der schon damals ein historisches Setting vorgab und über den genauen Blick auf Ungerechtigkeiten jeglicher Art verfügte, ist er heute so frisch wie eh und je. Und einer der schönsten Romane über Kindheit und Familie. Das bestätigen die in der Neuausgabe beigefügten schwärmerischen und hymnischen Nachworte von Jacqueline Woodson, Kate DiCamillo, Varian Johnson und Jason Reynolds.

Klaus Nowak

curtis watsons

Christopher Paul Curtis: Die Watsons fahren nach Birmingham – 1963

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
München: dtv 2024, 240 S., € 16,50, ab 10 Jahren

Dieser Buchtipp erschien zuerst in "1001 Buch"