Der Urwald hat meinen Vater verschluckt
Eiin packender Abenteuerroman
Eva hat sechs Zehen am rechten Fuß - und wenn sie lügt, fängt der zusätzliche Zeh zu kribbeln an. Manchmal juckt er sogar, wenn jemand anderes lügt – etwa, wenn sie mehr über ihren nicht vorhandenen Vater wissen möchte. Da weicht Mama aber aus, spricht nur von „diesem Wurm“, der feige war und einfach abgehauen ist. Und mehr gäbe es da gar nicht zu sagen. Was Eva, mittlerweile zwölf, nur noch mehr ins Grübeln bringt. Denn sie läuft herum mit „einer Art Loch im Herzen“, das entsteht, wenn man auf quälende Fragen keine Antworten bekommt. So macht sie kurzerhand ihren biologischen Vater zum Thema ihrer Projektarbeit in der Schule. Rasch findet sie – mit Hilfe von Opa und einem Buch aus der Schulbibliothek über „Vererbung“ – heraus, dass sie von ihrem Vater nicht nur den elften Zeh, sondern auch ihr krauses Haar und ihre Hautfarbe abbekommen hat, und dass ihr unbekannter Papa irgendwo im fernen Surinam stecken muss. Und weil Eva nicht so rasch aufgibt, wenn sie sich mal etwas in den Kopf gesetzt hat, sitzt sie alsbald in einem Flugzeug nach Paramaribo, begleitet von einem Filmteam der TV-Sendung „Verlorene Zeit“, das die Zusammenkunft mit dem Vater als tränenreiche Story inszenieren möchte. Schließlich ist Evas Mama eine allseits bekannte Musikerin und Sängerin ...
Simon van der Geest beweist erneut, wie anschaulich er über komplizierte familiäre Beziehungen zu schreiben vermag. Wie schon in den ebenfalls bei Thienemann in der deutschen Übersetzung erschienenen und sehr zu empfehlenden Kinderbüchern „Krasshüpfer“ und „Das Abrakadabra der Dinge“ bringt auch hier ein Schweigen und Verheimlichen den Motor der Geschichte zum Laufen. Zudem verhandelt der Roman, der zur Hälfte im Dschungel von Suriname spielt, überzeugend Themen wie Identität und Herkunft, kulturelle Differenz, Rassismus und Exotismus, Kolonialismus und Unterdrückung, die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichkeit und den Umgang mit Medien. Dabei liest sich das alles auf über 400 Seiten leicht und unterhaltsam als spannendes und auch witziges Abenteuerbuch für Kinder ab zehn Jahren. Weil van der Geest mit Eva über eine sehr taffe, reflektierte Ich-Erzählerin verfügt. Weil er deren Erzählfluss ab und an geschickt mit anderen Textsorten – Auszügen aus Evas Projektarbeit, Briefen und Kommunikation via Handy oder Mail – unterbricht. Weil er seine Heldin parallel zur Recherche der elterlichen Liebesgeschichte ein Wechselbad der Gefühle zwischen Freundschaft, Flirt und erstem Kuss durchleben lässt. Und weil er sie am Schluss erkennen lässt, dass es „viel mehr Sorten Väter gibt, als man denkt“.
Klaus Nowak
Simon van der Geest: Der Urwald hat meinen Vater verschluckt
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Stuttgart: Thienemann 2021 | 432 S. | € 17,00 | ab 10 Jahren
Dieser Buchtipp erschien zuerst in "Die Furche"