Das Gegenteil von Hasen
„Julia hat sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn man alles laut sagen würde, was man denkt. Wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt und keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten anderer. Und in ihrer Vorstellung war das irgendwie befreiend gewesen.“
Dass Julia, 17, die in ihrer Klasse zur Clique der Schönen und Reichen gehört, weil sie mit den Schönsten & Reichsten befreundet ist, dann auch über eben die schreibt, was sie denkt, rücksichtslos, explizit, wird erst ein Problem, als jemand ihren Computer stiehlt. Und öffentlich macht, was nie öffentlich werden sollte. Wer will, kann jetzt detailliert über den schlechten Sex mit ihrem Freund lesen, über die Garstigkeiten ihrer besten Freundin, die Verlogenheit von deren Familie. Über den Jungen, der während nur einer einzigen Busfahrt zur Schule mehr interessante Dinge sagt, als ihr Freund in ihrer gesamten Beziehung von sich gegeben hat, den sie sich aber lieber nicht nackt vorstellt ... Und natürlich wollen alle das lesen: Jene, über die geschrieben wurde ebenso wie alle anderen. Auch die Lehrer*innen, sogar die Rektorin.
Anne Freytag, die im WDR als „Königin der Jugendliteratur“ bezeichnet und dazu noch mehrmals ausgezeichnet wurde, hat in Bezug auf New Adult Fiction im deutschen Sprachraum eine Art Alleinstellung. Kaum jemand schreibt so geschmeidig und vor allem auch so explizit über und für Menschen „in their late teens and early twenties, who are all too often missing from the pages of both Young Adult and Adult books, to the forefront“ (Kristen Kiefer). Hat man das früher Brückenliteratur genannt? Egal.
Souverän stellt die Autorin in „Das Gegenteil von Hasen“ sieben Jugendliche ins Zentrum und erzählt abwechselnd und unterschiedlich gewichtet aus deren Perspektiven. Baut Gesprächsprotokolle, Handynachrichten und Teile aus Julias Blog ein, Gespräche mit Beteiligten und deren Eltern im Rektorat. Geht nah an die Figuren ran, bleibt dabei aber in Distanz zu allen. Wer hier gut ist oder böse, Opfer oder Täter*in, was Lüge ist und was Wahrheit, scheint nur manchmal klar zu sein – und ändert sich mit den Perspektiven. Ganz klar und auch naheliegend dagegen ist, dass sich die Dynamik in diesem sozialen Netz mit der Veröffentlichung der rohen Aufzeichnungen verändert. Das macht den Reiz der Lektüre aus. Der Blick der einen auf die anderen, der Blick der anderen zurück sowie der Blick auf sich selbst durch den Blick der anderen.
„Mich durch ihre Augen zu sehen, war, als würde meine Realität zum ersten Mal vollkommen scharf. Erst ihre Worte haben mir bewusst gemacht, wie ich bin. Dass ich mich selbst belüge. Und wie viel wir alle lügen. Meist aus Höflichkeit, weil man uns von klein auf beigebracht hat, dass man gewisse Dinge einfach nicht sagt. Julia hat sie alle gesagt.“
Anne Freytag: Das Gegenteil von Hasen
München: heyne>fliegt/Randomhouse | 416 S. | € 17,50 | ab 14 Jahren
Dieser Buchtipp erschien auch im Newsletter Deutsch 1-2020/21 des Verlags Hölder-Pichler-Tempsky